Öland
Martins Schulter gelegt. Würdest du so was tun?«
»Nein«, hatte Gerlof sofort erwidert.
Aber es stimmte; der strenge Direktor August Kant hatte
seine Hand freundschaftlich auf die Schulter des genauso
düster dreinblickenden Kapitäns Martin Malm gelegt. Merkwürdig.
Ernst wollte ihm nicht mehr verraten, wusste aber wahrscheinlich mehr. Er hatte etwas gesehen oder gehört, was ihn
auf neue Gedanken gebracht hatte. Er war zum Holzmuseum
nach Ramneby gefahren und hatte dort nach Beweisen gesucht, ohne Gerlof davon zu erzählen. Und ein paar Wochen
später hatte er ein Treffen mit jemandem vereinbart, ohne
dass Gerlof davon erfahren sollte.
»Willst du näher ans Grab, um dich zu verabschieden, Gerlof?«
Astrids Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Er schüttelte
den Kopf.
»Das habe ich schon getan«, sagte er.
Die letzten Rosen wurden auf Ernsts Sarg geworfen, dann
war die Beerdigung vorbei.
Sie zog den Rollstuhl vom Grab weg und schob ihn den
Weg hinauf. Gerlof streckte den Hals und sah quer über den
Friedhof zu einem alten Grabstein an der westlichen Mauer.
Das Grab von Nils Kant.
Wer lag wirklich darin?
PUERTO LIMÓN, OKTOBER 1955
D ie Stadt am Meer ist dunkel und laut und stinkt nach Dreck
und Hundekot.
Nils Kant hat ihr den Rücken zugekehrt. Er sitzt an seinem
Stammtisch auf der Veranda der Hafenkneipe Casa Grandes,
vor sich eine Flasche Wein und den Blick aufs Wasser gerichtet, das Karibische Meer vor den Ufern Costa Ricas. Auch
wenn der Geruch von Morast und verfaultem Tang nicht viel
besser ist als der Gestank, der über den schmalen Gassen der
Stadt hängt, bietet der Blick aufs Wasser doch wenigstens die
Möglichkeit, in Gedanken von diesem Ort zu fliehen.
Tagsüber steht er oft am Kai und starrt auf das glitzernde
Meer hinaus.
Das ist der Weg in die Heimat. Das Meer ist der Weg nach
Schweden. Wenn er genug Geld zusammenhat, muss er sich
nur noch auf die Reise begeben. Er hebt seinen Krug mit lauwarmem Rotwein und nimmt einen großen Schluck, um die
vielen Schwierigkeiten seiner Rückkehr zu vergessen, denn
die bittere Wahrheit lautet, dass er nicht genug Geld hat.
Seine Kasse ist leer. An manchen Tagen schleppt er Bananen
und Ölfässer im Hafen, aber das reicht nur so für Essen und
Miete. Er müsste mehr arbeiten, aber es geht ihm nicht gut.
»Estoy enfermo«, murmelt er dem Meer zu.
Zu oft leidet er unter Magen- und Kopfschmerzen, und
seine Hände zittern.
Wie oft hat er schon seinen Krug zum Wohl auf Schweden
erhoben, hier auf der Veranda der Kneipe? Auf Öland? Auf
Stenvik? Und auf seine Mutter Vera? Unzählige Male.
Dieser Abend in seiner Kneipe ist wie jeder andere auch,
abgesehen davon, dass Nils heute seinen dreißigsten Geburtstag feiert. Aber eigentlich gibt es keinen Grund zu feiern –
er weiß es, und das trübt seine Stimmung.
»Quiero regresar a casa«, flüstert er in die Dunkelheit.
Allmählich hat er gelernt, ein paar Brocken Spanisch zu
sprechen, auch Englisch, aber das Schwedische ist trotz allem am lebendigsten.
Mehr als zehn Jahre ist er jetzt auf der Flucht, seit er sich
im Hafen von Göteborg an Bord des Frachters Celeste Horizon geschlichen hat.
Auf der Celeste Horizon wurde er in einer Kajüte untergebracht, die so groß war wie eine Kiste, ein Sarg aus Stahl.
Danach ist er auf vielen Schiffen die südamerikanische
Küste auf und ab gefahren, aber die Celeste war das Schlimmste. An Bord gab es keinen trockenen Flecken; die Feuchtigkeit des Meeres drang durch alle Ritzen, und was nicht nass
war und schimmelte, war entweder zerrissen oder verrostet.
Überall lief oder tropfte Wasser. Fast einen Monat bekam er
kein Tageslicht zu sehen, weil seine Kajüte backbord lag und
sich das Schiff wegen der vielen Lecks immer auf diese Seite
legte.
Die Motoren stampften tagaus, tagein. Nils wurde seekrank und lag halb tot in seiner Koje im Dunkeln. Oft stand
Kommissar Henriksson schweigend neben seinem Bett,
schwarzes Blut tropfte aus seiner Brust. Dann schloss Nils die
Augen und wünschte sich, das Schiff würde auf eine Mine
laufen. Das Meer war noch voll von ihnen, obwohl der Krieg
vorbei war – daran hatte ihn dieses Schwein Kapitän Petri
oft genug erinnert. Er hatte zudem mehr als deutlich gemacht, dass Nils als Letzter in den Rettungsbooten würde Zu-flucht suchen dürfen, sollte die Celeste Horizon in die Luft
fliegen.
Während in England das Frachtgut umgeladen
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