Öland
und
klappte die Fußstützen seines Rollstuhls aus, damit er seine
Lackschuhe dort abstellen konnte.
Gerlof hatte sich mit Maries Hilfe mühsam in seinen einzigen schwarzen Anzug gezwängt, der sauber und gut geschnitten war. Er hatte ihn für die Beerdigung seiner Frau
Ella gekauft und seither etwa zwanzig Mal tragen müssen:
eine lange Serie von Beerdigungen guter Freunde und Verwandter, immer in der Kirche von Marnäs. Früher oder später würde er den Anzug auch auf seiner eigenen Beerdigung
tragen.
Über den Anzug zog er seinen grauen Mantel, dazu einen
dicken Wollschal um den Hals und eine Filzmütze, die er tief
über die Ohren drückte. Die Temperaturen waren an diesem düsteren Tag Mitte Oktober bis um den Gefrierpunkt
gesunken.
»Seid ihr so weit?«, fragte Boel aus dem Geschäftszimmer
kommend. »Wie lange wird das etwa dauern?«
»Das hängt davon ab, wie inspiriert Pastor Högström heute
ist«, antwortete Gerlof.
»Wir können Ihr Mittagessen auch in der Mikrowelle aufwärmen«, schlug Boel vor.
»Das wäre sehr nett«, sagte Gerlof, der allerdings bezweifelte, dass er nach Ernsts Beerdigung besonders hungrig sein
würde.
Er unterstellte der kontrollsüchtigen Boel, dass es ihr gar
nicht ungelegen kam, wenn Sjögren ihn in den Rollstuhl
zwang, denn dann hatte sie einen besseren Überblick über
seine Aktivitäten. Aber er würde bald wieder auf den Beinen
sein und Jens’ Mörder finden.
Marie zog sich ein Paar Fingerhandschuhe über und schob
den Rollstuhl.
Erst in den Fahrstuhl, dann in die beißende Kälte, die
Rampe hinunter und auf den Vorplatz hinaus. Frostkalter
Kies knirschte unter den Rädern, als sie in den menschenleeren Weg zur Kirche einbogen.
Gerlof biss die Zähne zusammen. Er fühlte sich unerträglichmachtlos in diesem Rollstuhl, versuchte aber, sich zu entspannen.
»Sind wir spät dran?«, fragte er.
Es hatte so lange gedauert, ihm den Anzug anzuziehen.
»Nur ein bisschen«, antwortete Marie. »Aber das war meine
Schuld … Was für ein Glück, dass wir so nah an der Kirche
wohnen.«
»Aber wir müssen wenigstens nicht nachsitzen, was meinen Sie?«, sagte Gerlof, und Marie kicherte höflich.
Das mochte er an ihr, nicht alle Mitarbeiter im Altersheim
hatten verstanden, dass es die Pflicht der Jungen war, über
die Witze der Alten zu lachen.
Sie näherten sich der Kirche, und Gerlof senkte den Kopf,
um sein Gesicht vor dem eiskalten Wind zu schützen, der
vom Kalmarsund über die Insel fegte. Der Seemann in ihm
erkannte, dass es ein gleichmäßiger und kräftiger Südwestwind war, mit dem man ohne Weiteres – hart am Wind gesegelt – an der schwedischen Küste entlang bis Stockholm
kommen würde. Dennoch sehnte er sich an so einem Tag
nicht aufs Wasser. Der Wind hätte die Wellen über die Reling
gepeitscht, die Kälte hätte das Deck mit Eis überzogen. Nach
über dreißig Jahren an Land fühlte sich Gerlof tief im Inneren noch immer als Kapitän, aber kein Seemann wollte im
Winter gerne aufs Wasser.
Das Läuten der Kirchenglocken klang trostlos und hallte
über die flache Landschaft. Marie wurde schneller.
Gerlof hatte es dagegen gar nicht so eilig, zur Beerdigung
zu kommen – für ihn war sie eher ein Ritual für die anderen
Trauernden. Er selbst hatte bereits vor einer Woche im Steinbruch Abschied von Ernst genommen. Die Sehnsucht nach
dem Freund hatte sich mit der Sehnsucht nach seiner Frau
Ella vermischt und würde ihn begleiten, solange er lebte.
Gleichzeitig trieb ihn jedoch dieses unheimliche Gefühl um,
dass Ernst nicht in Frieden ruhte; als würde er ungeduldigdarauf warten, dass Gerlof alle Teile des Puzzles zusammenfügte, das er hinterlassen hatte.
Mindestens ein Dutzend Autos standen vor der Kirche. Gerlof suchte Julias roten Ford, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Aber er sah Astrids Volvo und nahm an, dass die beiden
zusammen gefahren waren. Wenn seine Tochter überhaupt
gekommen war.
Die weiß gekalkte Kirche von Marnäs, die im 19. Jahrhundert erbaut worden war, ragte in den grauen Himmel. Seit
über tausend Jahren hatten an dieser Stelle christliche Kirchen gestanden. Das war bereits die dritte.
Sie betraten den Friedhof und beeilten sich, den breiten
Weg aus Steinplatten hinaufzukommen. Am Eingang wendete Marie den Rollstuhl und zog ihn auf den Hinterrädern über die niedrige Türschwelle durch die geöffnete Kirchentür.
Gerlof nahm seine Mütze ab,
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