Öland
die Griffe.
Marie sah Astrid skeptisch an, die nicht nur einen Kopf
kleiner war als sie, sondern auch dünn wie ein Strich, aber
Gerlof lächelte ihr aufmunternd zu.
»Das schaffen wir schon, Marie«, beruhigte er sie.
Marie nickte, und Astrid schob den Rollstuhl den Gang
hinunter, ihr Bruder Carl begleitete sie.
»Da ist ja John«, sagte er.
Gerlof drehte seinen Kopf und sah John Hagman mit seinem Sohn Anders die Kirche verlassen.
Gerlof knöpfte seinen Mantel zu, als Kälte und Wind sie
vor der Tür empfingen. Dabei ertastete er einen flachen Gegenstand in seiner Manteltasche und erinnerte sich, dass er
Ernsts Portemonnaie eingesteckt hatte.
Er holte es hervor, strich über das zerschlissene Leder in
seiner Hand und fragte Astrid:
»Hast du meine Tochter heute schon gesehen?«
»Heute noch nicht«, antwortete Astrid. »Aber wollte sie
nicht nach Göteborg zurück? Als ich vorhin bei euch vorbeigefahren bin, hat ihr Auto auch nicht mehr auf der Landborg
gestanden.«
»Aha«, sagte Gerlof.
Dann war Julia also schon am Morgen losgefahren. Sie
hätte ruhig zur Beerdigung kommen können oder zumindest anrufen und sich von ihm verabschieden können. Aber
so war seine Tochter eben. Immerhin hatte er es geschafft,
dass sie wesentlich länger auf Öland geblieben war, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Und obwohl die Ermittlungen
keine riesigen Fortschritte gemacht hatten, glaubte er doch,
dass ihr der Aufenthalt gutgetan hatte. Er würde sie bald in
Göteborg anrufen.
»Ist das nicht Ernsts Portemonnaie?«, fragte Astrid.
Gerlof nickte.
»Ich wollte es seinen Angehörigen aus Småland geben«, erklärte Gerlof.
Sie sollten alles erhalten, abgesehen von der Eintrittskarte
für das Holzmuseum in Ramneby, die Gerlof in seiner Schreibtischschublade versteckt hatte.
»Du bist eine ehrliche Haut, Gerlof«, sagte Astrid.
»Ich habe nicht gerne Schulden«, erklärte er.
Sie gingen über den Friedhof, vorbei an vielen vertrauten
Grabsteinen. Viele der schönsten Steine hatte Ernst gemacht,
darunter auch den breiten von Ella. Er war glatt und schön,
und unter ihrem Namen war noch ausreichend Platz für Gerlofs, wenn es so weit war.
Die Trauergemeinde hatte sich in einem Halbkreis um das
offene Grab versammelt, und Astrid schob Gerlof resolut
zwischen die Wartenden. Er sah die tiefe Grube zu seinen
Füßen.
Die Sargträger hatten am Grab kurz haltgemacht, den Sarg
dann jedoch langsam hinabgleiten lassen. Gerlof erkannte
weitere bekannte Gesichter: Bengt Nyberg, der Redakteur der Ölands-Posten , stand neben dem Grab, zur Abwechslung einmal
ohne Kamera in den Händen, und Gerlof versuchte sich zu erinnern, seit wie vielen Jahren er eigentlich schon als Redakteur in Marnäs tätig war. Fünfzehn oder zwanzig? Er war vom
Festland gekommen wie so viele andere.
Neben ihm stand das Ehepaar Linda und Gunnar Ljunger, die Hotelbesitzer aus Långvik. Sie unterhielten sich leise,
vermutlich diskutierten sie neue Bauvorhaben. Neben ihnen
stand Lennart Henriksson. Er trug einen schwarzen Anzug.
Gerlof warf erneut einen Blick ins Grab. Was erwartete Ernst von ihm? Eines Tages Anfang September war er
zu Besuch gekommen und hatte ein dünnes Buch hervorgeholt.
»Kennst du das?«, hatte er Gerlof gefragt.
Er hatte den Kopf geschüttelt.
Es war das Jubiläumsbuch der Reederei Malmfrakt. Gerlof
hatte in der Ölands-Posten von seinem Erscheinen gelesen, es
selbst jedoch noch nicht durchgeblättert.
»Du kennst doch Martin Malm«, hatte Ernst gesagt. »Das
hier ist ein altes Bild von ihm, aufgenommen Ende der Fünfzigerjahre, beim Sägewerk von Familie Kant in Småland.«
»Ich kenne Martin eigentlich kaum«, hatte Gerlof geantwortet und verwundert das Buch entgegengenommen. »Wir
haben uns immer nur im Hafen gesehen, als wir noch zur See
gefahren sind.«
»Und danach, als ihr beide an Land gegangen seid?«
»Wir sind uns nur selten begegnet. Drei- oder viermal vielleicht. Bei gemeinsamen Abendessen für pensionierte Kapitäne.«
»Abendessen?«
»Ja, in Borgholm.«
»Weißt du, woher Martin das Geld für sein erstes Containerschiff bekommen hat?«, hatte Ernst gefragt.
»Nein. Das weiß ich nicht genau. Von seiner Familie?«
»Nicht von seiner eigenen«, hatte Ernst ihn aufgeklärt. »Es
kam von Familie Kant.«
»Steht das in dem Buch?«
»Nein, aber das habe ich gehört. Jetzt sieh dir mal dieses
Bild an. August Kant hat seine Hand auf
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