Oh, diese Verwandschaft!
1
Sie saßen um den Tisch im Eßzimmer und hörten zu, wie Mr. Brady Großmutters Testament vorlas: Onkel Joseph und die vier Enkelkinder. Lauras Augen waren verschwollen; sie konnte es immer noch nicht fassen, daß Großmutter, die sie so geliebt und so lange umsorgt hatte, nun tot war.
Mrs. Stapletons Bruder, Onkel Joseph Spencer, trug es mit stoischer Ruhe. Aber dann fiel Laura ein, daß ihn Dinge, die ihn nicht selbst betrafen, selten zu rühren pflegten. Die Vettern und Cousinen sahen traurig und niedergeschlagen aus. Sie waren die Kinder von Großmutters einzigem Sohn, der mit seiner Frau bei einem Verkehrsunfall vor fünfzehn Jahren ums Leben gekommen war. Seit damals war dieses Haus ihre Heimat gewesen, sooft sie danach verlangten. Großmutter hatte sie aufgezogen und schrecklich verwöhnt, und ihnen allen ging ihr Tod nahe. Aber sie waren gespannt auf das Testament; denn Mrs. Stapleton war eine sehr reiche Frau gewesen, und sie alle waren auf sie angewiesen.
Mr. Brady begann: »Meiner Enkelin Laura Jane Howard vermache ich...«
Laura seufzte; was für langweilige Namen! So ganz anders als die Namen der Stapletons: Lester, Eva, Christine und Hugh. Ihre Eltern mußten schrecklich wenig Phantasie gehabt haben.
Aber was sagte der Rechtsanwalt?
»...vermache ich das Haus und die zweihundert Morgen Land, auf dem es steht, genannt die Brookside-Farm. Ich vermache die Farm Laura Jane Howard in der festen Hoffnung, daß sich die anderen Mitglieder der Familie dort stets zu Hause fühlen dürfen, wenn sie es möchten.«
Laura atmete schwer. Brookside und die Farm. Das Haus war groß und sehr alt; es stand leider an einer gefährlichen Kurve der Straße und würde niedergerissen werden, wenn einmal die Autobahn gebaut werden würde. Aber das Land war sehr wertvoll. Hier hatte Großmutter gelebt. Hier hatte sie den Enkelkindern eine Heimat geschaffen. Hier hatte Laura bis zu ihrer Heirat mit Derek Howard vor sechs Monaten gelebt. Die anderen waren gekommen und gegangen, wie es ihnen gepaßt hatte. Laura hatte das Gefühl, das sollte nun unverändert weitergehen.
Sie seufzte. Aber gleich dachte sie reumütig: Aber es ist doch gut, daß sie es mir vermacht hat. Es wird viel Mühe kosten, das Haus zu erhalten; aber für Derek ist es schön, wenn er eigenes Land besitzt, anstatt es zu pachten. Was die Familie angeht, ist es das mindeste, was ich tun kann. Wie oft hat Großmutter gesagt: »Sie sind ein bißchen verrückt, natürlich; aber wir müssen auf sie aufpassen, Laura. Sag selbst: Wenn ich’s nicht tue, wer tut’s dann?«
Es war nicht leicht, auf sie aufzupassen. Mrs. Stapleton hatte sie geliebt und verwöhnt, abwechselnd getadelt und verzogen; aber sie hatte sie immer wieder liebevoll aufgenommen, trotz all der Dummheiten, die sie machten. »Es ist doch ihre Heimat. Ich weiß, ich bin eine alte Närrin, Laura, aber sie und du, ihr seid alles, was ich habe. Joseph zählt nicht. Ich hätte sie besser erzogen, wenn sie nicht so niedlich und hübsch gewesen wären. Schönheit habe ich nie widerstehen können.«
Sie sahen wirklich fabelhaft aus. Lester, der Älteste, war Journalist geworden, um eines Tages ein, wie er glaubte, hervorragender Schriftsteller zu werden. Er war groß und dunkelhaarig; allerdings wurden seine ebenmäßigen Züge durch einen leichten Anflug von Arroganz getrübt. Auch Eva war groß; mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie ein erfolgreiches Photomodell, und sie setzte lieber ihre blonde Schönheit und ihren untadeligen Körper ein als ihren Verstand, der eigentlich genauso wohlgeraten war. Sie glich das durch den Umgang mit einer Gruppe von Quasi-Intellektuellen aus, die sie in ihrer kleinen Stadtwohnung sehr oft besuchten. Sie wohnte nicht mit Lester zusammen, denn mit ihm lag sie sich unaufhörlich in den Haaren.
Christine, das dritte Stapletonsche Enkelkind, war zwanzig und besaß, wie ihre Brüder behaupteten, überhaupt kein Hirn. Aber sie hatte ein besonders hübsches, sanftes Gesicht, war Großmutters Liebling gewesen und von ihr dementsprechend verwöhnt worden. Sie war die Kleinste in der Familie und die Schwierigste. Zur Überraschung aller und zu Großmutters Ärger hatte sie sich mit neunzehn Jahren mit Guy Appleton verlobt, einem erfolgreichen Rechtsanwalt, der zehn Jahre älter war als sie. Sie wohnten zehn Meilen von Brookside entfernt, und wenn Christine mit ihrem Mann irgendeinen Ärger hatte, sauste sie heim zu Großmutter, die ihr sanft den Kopf zurechtsetzte.
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