Oh, Mandy
der Hoffnung ein Zeichen von Jaime zu entdecken. Leider sah sie nur Gabe, ihren Vorarbeiter, der gerade von der Pferdekoppel kam.
„Hey, Gabe!” rief sie und ging zu ihm. „Hast du Jaime gesehen?”
„Nein, Ma’am. Jedenfalls nicht kürzlich”, fügte er vage hinzu.
Mandy verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn grimmig an. Sie war es gewohnt, dass er und die anderen Cowboys, die auf der Double-Cross-Heart-Ranch arbeiteten, die Eskapaden ihres Sohnes zu vertuschen suchten. „Okay, wann hast du ihn zuletzt gesehen?”
Gabe nahm seinen abgewetzten Cowboyhut ab und kratzte sich am Kopf. „Na ja, ich glaube, das war heute Morgen”, erwiderte er.
„Und wo war er?”
„Im Stall. Hat sich ein Pferd gesattelt.”
„Und wohin wollte er?”
Gabe kratzte sich noch einmal. „Weiß nicht genau, aber er hatte eine Angel dabei.”
Mandy ließ die Arme sinken und verdrehte die Augen. „Ich schwöre, ich werde diesen Jungen noch ans Haus fesseln, wenn er nicht aufhört, sich einfach so davonzumachen, ohne erst seine Pflichten zu erledigen.”
„Aber, Miss Mandy”, begann Gabe.
„Hör auf”, schimpfte sie. „Du weißt genauso gut wie ich, dass die Pflichten Vorrang haben, und es wird höchste Zeit, dass Jaime sich verantwortungsbewusster verhält. Er ist schließlich schon zwölf, und ihr müsst aufhören, ihn zu decken.”
„Der Junge ist nur abenteuerlustig. Er hat ein Recht darauf, ab und zu ein wenig umherzuschweifen. Er ist ein guter Junge.”
Wenn die Nichterfüllung seiner Pflichten der einzige Grund für ihren Ärger gewesen wäre, hätte Mandy Gabe wahrscheinlich zugestimmt, denn Jaime war wirklich ein ordentlicher Junge. Aber ihrem Ärger lag eine schreckliche Angst zugrunde. Sie wollte ihren Sohn so nah wie möglich am Haus behalten, um ihn vor möglichem Schaden zu bewahren, bis sie sicher wusste, dass Jesse Barrister die Stadt wieder verlassen hatte.
Sie hakte Gabe unter und ging mit ihm in Richtung Scheune. „Du hast ja Recht. Es ist nur so, dass …”
In diesem Moment hörte Mandy das Geräusch von Pferdehufen. Als sie über die Schulter zurückschaute, sah sie, dass sich zwei Reiter näherten. Jaimes Fuchsstute erkannte sie sofort, und Erleichterung überkam sie. Sie kniff die Augen zusammen, um herauszufinden, wer der andere Reiter war.
„Oh, nein!” stieß sie hervor und vergrub die Finger in Gabes Arm. „Es ist Jesse!”
„Keine Sorge, Miss Mandy”, versicherte Gabe ihr hastig. „Ich kümmere mich darum.”
„Nein”, murmelte sie und ließ seinen Arm los. „Das muss ich alleine durchstehen.”
Obwohl sie sehen konnte, dass Gabe damit nicht einverstanden war, gab er seufzend nach.
„Ich bin in der Scheune”, sagte er im Weitergehen. „Wenn du mich brauchst, musst du nur rufen.”
„Danke, Gabe”, flüsterte Mandy, bevor sie wieder zu ihrem Sohn schaute. Angespannt beobachtete sie ihn, um zu sehen, ob er in Ordnung war. Doch seine geröteten Wangen und die niedergeschlagenen Augen verrieten nichts anderes als Schuldbewusstsein.
Dagegen sagte ihr ein Blick auf Jesses Gesicht, dass er ihr Geheimnis erraten hatte.
Anklagend und wütend betrachtete er sie unter dem Rand seines schwarzen Stetsons. Hastig wandte sie den Blick ab und schaute wieder zu ihrem Sohn, als die beiden Reiter vor ihr zum Stehen kamen.
„Gibt es ein Problem?” fragte sie.
Jaime behielt den Kopf gesenkt und antwortete nicht.
„Ich habe den Jungen auf dem Land der Barristers erwischt”, entgegnete Jesse knapp.
Mandy war sekundenlang sprachlos. „Jaime McCloud! Was, in Teufels Namen, hast du auf der Circle-Bar-Ranch zu suchen?”
Jaime zog den Kopf ein. „Ich hab mir nichts Böses dabei gedacht”, erwiderte er kläglich.
„Ich hab nur ein bisschen geangelt.”
„Anscheinend hast du gar nicht nachgedacht. Auf jeden Fall hast du die Regeln nicht eingehalten. Weder die der Barristers noch meine.” Mandy presste die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten, weil sie die Auswirkungen des Ungehorsams ihres Sohnes bereits zu fürchten begann. „Bring dein Pferd in den Stall und bitte Gabe, es für dich zu versorgen. Und dann möchte ich, dass du ins Haus gehst und dort auf mich wartest.”
„Ja”, murmelte Jaime niedergeschlagen und ritt in Richtung Stall.
Mandy schaute ihm nach und spürte dabei Jesses Blick im Rücken spürte. Sie schluckte und wandte sich um.
Es fiel ihr schwer, Jesse anzuschauen, denn er hatte sich während der vergangenen Jahre kaum
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