Ohne Beweis (German Edition)
auf den Zahn fühlen“, murmelte Nora am Abend zuvor. Sie war nach dem Abendessen mit ihrer Familie in ihrem Zimmer verschwunden und hatte auf dem Hof angerufen, um festzustellen, ob jemand zu Hause war. Da Joska heute Nacht Dienst hatte und sie also nicht besuchen konnte, hatte sie sich vorgenommen, gleich jetzt noch zu diesem Hof zu fahren.
„Wo willst du denn so spät noch hin?“, fragte ihr Vater Jakob, der manchmal vergaß, dass seine Tochter längst kein kleines Mädchen mehr war.
„Ich fahr kurz rüber zum Mühlenhof und frag die Bauersleute nach Carmen. Vielleicht wissen die was“, rief Nora und war schon fast zur Türe hinaus. Doch ihre Mutter holte sie mit ihren nächsten Worten zurück.
„Dort lebt jetzt nur noch der Bauer Johann. Seine Frau ist vor kurzem gestorben. Herzversagen, glaub ich“.
„Oh“, machte Nora nur und blieb stehen. „Das wusste ich nicht. Ob es dann blöd kommt, wenn ich den jetzt über die Carmen ausfrage?“
„Nein, warum? Wenn ihre Schwester in der letzten Zeit doch angeblich öfter dort oben war? Vielleicht hatte Carmen Sorge, dass der Bauer nach dem Tod seiner Frau noch aufdringlicher zu ihrer Schwester werden könnte“, schlussfolgerte Delfina, Noras Mutter.
„Hhm … könnte sein. Aber das könnte ich ja versuchen, aus ihm heraus zu kriegen. Kommst du mit, Mama? Ich weiß nicht, wie man mit jemand umgeht, der gerade seine Frau verloren hat und den man eigentlich gar nicht kennt“, jammerte Nora, doch auch ihre Mutter war noch nie in so einer Situation gewesen. Sie hatte bisher „nur“ ihre Schwiegereltern verloren und diese waren ihr nicht so nahe gestanden, wie einem die eigene Frau stehen sollte. Allerdings wussten weder Nora noch Delfina, in welchem Verhältnis die Eheleute auf dem Mühlenhof zueinander gestanden hatten.
„Wenn du dich dann besser fühlst, geh ich halt mit. Ich zieh mir nur kurz noch eine Jacke an, bei diesem launischen Mistwetter weiß man ja nie. Wir laufen doch, oder? Ist ja nicht weit“, bestimmte Delfina und freute sich trotz des stürmisch kühlen Wetters auf einen kleinen Spaziergang. Nora hatte sich tatsächlich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, dass der Mühlenhof ja nur ein paar Minuten von ihrem Hof weg war und man sogar hinüber schauen konnte. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, hatte sie weder Carolin noch Carmen hier hochfahren sehen. Aber das musste ja nichts heißen, denn tagsüber waren Nora und ihre Familie ja immer unten im Dorf in der Messerwerkstatt. Obwohl ihre Großeltern, die im Haus mit der Werkstatt gewohnt hatten, nun nicht mehr lebten, hatten sie die Werkstatt bisher noch dort belassen. In der Küche wurde mittags von Delfina gekocht und gemeinsam gegessen, ansonsten stand das Haus leer. Nora trug sich mit dem Gedanken, irgendwann in dieses Haus zu ziehen, doch noch fühlte sie jeden Tag den Geist ihres geliebten Großvaters in diesem Haus. Solange das so war, wollte sie nicht auch noch dort wohnen und schlafen.
„Können wir?“, fragte Delfina in Noras Gedanken hinein.
„Ja, gehen wir und schauen, ob wir etwas über Carmen herausfinden“, rief Nora schon wieder voller Tatendrang. Ihr Vater und ihr Bruder Felix schüttelten nur die Köpfe. Schon wieder steckte Nora ihre Nase in fremde Angelegenheiten - wenn das nur gutging!
Kaum waren die beiden Frauen zur Türe hinaus, frischte der Wind auf und blies ihnen direkt von vorne ins Gesicht. Sie mussten sich richtig dagegen stemmen und lachend lehnte sich Nora in den Wind. Sie liebte es, wenn es stürmte und gewitterte. Zu ihrem Leidwesen zogen die meisten Gewitter seit ein paar Jahren immer an Ottenbach vorbei. Die Leute sagten, das würde an einem hohen Turm im Remstal liegen, der vor ein paar Jahren gebaut worden war. Eine Gewitterfront würde seither regelrecht von ihm zerteilt werden. Ob das wirklich stimmte?
Als sie endlich den Hof erreichten, tröpfelte es bereits und hinter den Hügeln zuckten die ersten Blitze, gefolgt von fernem Donnergrollen. Trotz des Getöses hörten sie nach dem Klingeln einen Hund im Innern des Hauses bellen. Doch die Türe blieb verschlossen.
„Scheint jetzt doch niemand da zu sein“, murrte Nora, die es nicht wahr haben wollte, umsonst hier herauf gestapft zu sein. Doch gerade, als sie sich umdrehen und wieder gehen wollten, öffnete der alte Bauer die Haustüre. Nora war erstaunt, wie jung der Mann noch aussah. Auf jeden Fall nicht wie siebzig. Er war groß und schlank,
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