Ohne Beweis (German Edition)
hatte muskulöse Arme und einen breiten Brustkorb. Durch seinen Dreitagebart und die stahlblauen Augen sah er sogar äußerst attraktiv aus. Doch sein Lächeln wirkte aufgesetzt, als er fragte, wer hier so spät am Abend noch was kaufen wollte.
Nora, wie immer nicht um eine Ausrede oder Antwort verlegen, sprudelte hervor:
„Entschuldigen Sie bitte die späte Störung, Herr Weber, aber ich hatte ja vorhin extra noch angerufen. Ich soll morgen für die TSV-Vereinsmeisterschaften einen Kuchen backen und den soll ich gleich morgens abgeben. Leider haben wir keine Eier mehr im Haus und meine Freundin Carmen hat mir geraten, ich solle doch schnell bei Ihnen noch welche kaufen. Sie wären bestimmt zu Hause und wären sicher so freundlich, mir welche zu verkaufen.“
„So, so“, brummelte der Bauer nur, „hat sie das …“. Dabei wischte er sich mit den Fingern über die Augen und drückte seine Nasenwurzel, um seinen Besuchern zu zeigen, dass er eigentlich schon sehr müde war. Dennoch fragte er bemüht freundlich, wie viele Eier er denn holen solle.
„Gleich zwanzig bitte, damit es sich für Sie auch lohnt und …“, weiter kam Nora nicht, denn im Innern des Hauses rumpelte es laut. „Was war das?“, fragte sie sogleich, doch der Hausherr winkte nur ab.
„Das wird der Hund gewesen sein.“
„Das glaube ich nicht, denn der liegt ganz friedlich hinter Ihnen. Oder haben Sie noch mehr Hunde?“, fragte Nora frech und versuchte, an dem Bauern vorbei in den Flur zu schauen. Doch der baute sich noch breiter vor ihnen auf und knurrte:
„Was soll das hier werden, junge Dame? Wollt Ihr nun Eier haben oder nicht?“
„Entschuldigung. Es geht uns wirklich nichts an, wer oder was in Ihrem Hause umgeht. Vielleicht war es ja auch nur der Wind“, beeilte sich Delfina zu versichern und stieß Nora mit dem Ellenbogen an, denn sie wollte den Bauer nicht misstrauisch machen. Dennoch kam ihnen beiden sein Verhalten etwas komisch vor. Trotzdem konnte sich Nora eine weitere Frage nicht verkneifen.
„Wann war eigentlich Frau Lechner das letzte Mal hier bei Ihnen? Sie hat doch Ihre Frau öfter mal besucht?“
„Das geht euch auch nichts an, aber ich sag`s euch trotzdem: Meine Frau ist vor zwei Tagen gestorben und seither war Frau Lechner nicht mehr hier. Ihre Schwester übrigens auch nicht, falls Ihr das auch noch wissen wollt. Und jetzt hol ich die Eier.“ Damit stieß er den zwei Frauen die Türe vor der Nase zu und sie hörten, wie er eine Treppe hinunter rumpelte und kurz danach unten auf der Seite aus einer Stalltüre wieder herauskam.
„Kommt`s runter!“, rief er. „Hier sind die Eier.“
Während Nora und ihre Mutter mit den Eiern zurück nach Hause liefen und ziemlich nass dabei wurden, lag eine Frau geknebelt und gefesselt in der Besenkammer des Mühlenhofes und kämpfte mit den Tränen. Warum waren die Besucher nicht auf das rumpelnde Geräusch aufmerksam geworden? Sie hatte sich doch absichtlich großen Schmerzen ausgesetzt, als sie sich mitsamt dem Stuhl hatte umkippen lassen! Jetzt tat ihre Schulter höllisch weh und die Leute, die geklingelt hatten, waren wieder weg! Wie hatte sie nur in diese unmögliche Situation kommen können und was wollte der Bauer von ihr? Entsetzt hörte sie, wie er zurück ins Haus kam und sich mit schlurfenden Schritten der Besenkammer näherte. Sie wollte nicht, dass er zu ihr kam, aber ohne ihn würde sie es nie schaffen, wieder aufzustehen. Sie musste freundlich und liebenswürdig zu ihm sein und ihm klar machen, dass sie gar nichts, wirklich gar nichts von Bedeutung gesehen hatte, als sie wegen ihrer blöden Neugier in den Unterlagen in seinem Büro gestöbert hatte. Vielleicht war es ganz normal, dass ein Bauer über den Placebo-Effekt von Tabletten im Internet recherchierte und die Packungsbeilage von den Herztabletten lag nur zufällig daneben.
„Ein komischer Typ ist das, Nora“, sagte Delfina auf dem Weg zurück. „Der sieht zwar noch super aus für sein Alter, aber trotzdem ist er ziemlich mürrisch und unfreundlich. Na ja, vielleicht liegt es daran, dass er ja erst kürzlich seine Frau verloren hat. Da benimmt man sich vielleicht etwas seltsam. Aber mir war bei deiner Frage nicht ganz klar, nach welcher Frau Lechner du eigentlich zuerst gefragt hast.“
„Das war ja auch Absicht. Ich hatte gehofft, dass er sich vielleicht irgendwie verplappert und ich so was rauskriege. Aber leider - Fehlanzeige. Außer diesen
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