Ohne ein Wort
heute aber auch noch kalt. »Wer macht eigentlich den Kaffee? Wird der von der Kläranlage geliefert?«
»Jemand lungert vor eurem Haus herum?«, fragte Rolly. »Und was wollte der Kerl?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber ich habe sicherheitshalber den Schlosser kommen lassen.«
»Da kriegt man ja eine Gänsehaut«, meinte Rolly. »Vielleicht ein Dieb, der nach offenen Garagentoren Ausschau hält.«
»Möglich«, sagte ich. »Na ja, neue Schlösser schaden bestimmt nicht.«
»Wohl wahr«, sagte Rolly. Er hielt inne. »Ich habe den Schuldienst satt, Terry. Ich werde auf jeden Fall nachhaken, ob sie mich nicht früher gehen lassen.«
Verblüfft sah ich ihn an. »Ich dachte, du musst in jedem Fall noch bis Ende des Schuljahrs ausharren.«
»Und wenn ich morgen tot umfalle? Dann müssen sie ja schließlich auch jemanden herbeizaubern, oder? Und die paar Kröten weniger Pension spielen jetzt auch keine Rolle mehr. Schule, das ist einfach nicht mehr dasselbe wie früher. Klar, früher gab es auch schwierige Kids, aber es wird immer schlimmer. Die kommen mit Waffen zur Schule. Und den Eltern ist es scheißegal! Ich mache den Job jetzt seit vierzig Jahren und ich habe die Nase voll. Millicent und ich wollen nur noch das Haus verkaufen und dann geht’s ab nach Florida. Vielleicht kriege ich dort meinen Blutdruck endlich wieder in den Griff.«
Ich nahm ihn genauer in Augenschein. »Du siehst wirklich ein bisschen mitgenommen aus heute, Rolly. Vielleicht besser, wenn du nach Hause gehst.«
»Ach was, alles okay.« Er machte eine Pause. Rolly rauchte nicht, sah aber aus wie ein Raucher, der dringend eine Zigarette braucht. »Millicent ist bereits pensioniert. Was hält uns noch auf? Jünger werden wir schließlich nicht mehr. Und man weiß nie, wie viel Zeit einem noch bleibt. Heute hier, morgen tot.«
»Oh«, sagte ich. »Da fällt mir ein …«
»Was?«
»Mit Tess ist alles wieder in Ordnung.«
»Wie?«
»Es hat sich herausgestellt, dass die Erstdiagnose falsch war. Sie ist nicht todkrank.«
Er sah mich völlig verdattert an. »Ich verstehe kein Wort.«
»Da gibt’s nichts zu verstehen. Sie ist kerngesund.«
»Aber«, sagte er schleppend, »die Ärzte haben ihr doch gesagt, sie würde sterben. Und jetzt kommt plötzlich heraus, sie haben sich geirrt?«
»Hmm«, sagte ich. »Aber es gibt ja wohl schlechtere Nachrichten.«
Rolly blinzelte. »Stimmt. Besser als andersrum.«
»Das kannst du laut sagen.«
Rolly warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss los.«
Was für mich ebenso galt. Mein Kurs in kreativem Schreiben begann in einer Minute. Den Teilnehmern hatte ich aufgegeben, einen Brief an jemanden zu schreiben, den sie nicht kannten, und dieser – realen oder erfundenen – Person etwas mitzuteilen, das sie niemand anderem erzählen würden. »Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen, wenn es um etwas Persönliches geht«, sagte ich. »Weil man damit zuweilen ein geringeres Risiko eingeht.«
Als ich fragte, wer als Erster vorlesen wolle, hob Bruno, der Klassenclown, zu meiner Überraschung die Hand.
»Bruno?«
»Ja, Sir. Kann ich?«
Dass Bruno sich freiwillig meldete, kam mir spanisch vor; sein sonstiges Engagement tendierte stark gegen null. Ich war auf der Hut, gleichzeitig aber auch gespannt, was er geschrieben hatte. »Gut, Bruno, bitte sehr.«
Er schlug sein Heft auf und begann zu lesen. »Liebes Penthouse …«
»Moment mal«, sagte ich. Die anderen Kids begannen schon jetzt zu lachen. »Es sollte ein Brief an eine Person sein, die ihr nicht kennt.«
»Ich kenne keinen beim Penthouse«, sagte Bruno. »Ich habe mich genau an die Vorgaben gehalten und über etwas geschrieben, was ich niemand anderem erzählen würde. Na ja, wenigstens nicht meiner Mutter.«
»Deine Mutter – das ist doch die Alte mit dem Nabelpiercing, stimmt’s?«, sagte jemand.
»Du hättest wohl gern selber so eine«, sagte Bruno. »Statt einer Schnalle mit Arschgesicht.«
»Will noch jemand vorlesen?«, fragte ich.
»Nee, warten Sie«, sagte Bruno. »Liebes Penthouse, ich möchte dir von einer Erfahrung mit einem sehr engen Freund von mir berichten, den ich hier Mr Johnson nennen will.«
Ein Junge namens Ryan fiel vor Lachen fast von seinem Stuhl.
Wie üblich saß Jane Scavullo in der letzten Reihe und blickte gelangweilt aus dem Fenster, als stünde sie weit über dem, was in diesem Klassenraum vor sich ging. Zumindest heute lag sie damit vielleicht gar nicht so falsch. Sie sah aus,
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