Ohne Fleiß kein Reis: Wie ich ein guter Deutscher wurde (German Edition)
sie, Fremde begrüßt sie, Traurige tröstet sie und vom Weg Abgekommene bekehrt sie.
Um dieser Seen-and-done-it-all-Stadt zu imponieren, muss man sich mächtig ins Zeug legen. Christopher-Street-Day, Love Parade, Walpurgisnächte, Respect Gaymes, Nobelpreise oder eine in Olympia erworbene Goldmedaille sind nichts Ungewöhnliches mehr. In Berlin darf jeder alles. Bis zu jenem Tag, als ich von Hungersnot getrieben im Asia-Markt Lee am Alex einen 10-kg-Reissack kaufte und damit durch die Straßen Berlins irrte. Die erregten Blicke der jungen Ur-, Wahl-, Möchtegernberliner, der Touristen, Raver, Poser und Berliner Schwaben durchbohrten meinen schweren Reissack und meine vom Hunger geschwächte deutsch-koreanische Wahlberliner Seele. Nur bei der älteren Generation, die den Krieg miterlebt hatte, war ich mir ihrer Sympathie und Solidarität sicher. Diese Generation erinnert sich noch an ein Leben voller Hunger, Luftbrücke, Muckefucke, Fischkopf und Tische, die nur spärlich gedeckt waren im Gegensatz zu denen meiner Generation. Wenn ein 10-kg-Reissack die Stadt aus der Fassung bringen konnte, dann, so wurde mir klar, war Berlin, Berlin weit davon entfernt, alles gesehen, gehört und erlebt zu haben.
Nach diesem Vorfall sattelte ich auf kleinere, nicht aufsehenerregende Reisbeutel um. Buddha und Konfuzius sei Dank, dass sie asiatische Reishersteller für solche Notfälle mit der Gabe der Weitsichtigkeitgesegnet haben. Die handlicheren 1-kg-Reisbeutel konnte ich gut getarnt in meinem Rucksack verstauen und vor neugierigen Berliner Blicken schützen. Bis mir eines Tages mein Freund Felix von der Möglichkeit erzählte, koreanische Lebensmittel diskret über das Internet in die Wohnung liefern zu lassen. Diese Nachricht klang in meinen Ohren wie Freude schöner Götterfunken und war die schönste seit meiner Nominierung zum Staatsbürger der Bundesrepublik im Jahr 1993. Ganz zum Leidwesen meines DHL-Postboten, der getreu dem Slogan seines Arbeitgebers »Für Sie überschreiten wir Grenzen – vor allem unsere eigenen« nicht müde wird, Monat für Monat die schweren 10-kg-Reissäcke in meine Altbauwohnung in der zweiten Etage ohne Aufzug zu liefern. Meinen Postboten will ich hiermit für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen, denn mit seiner Grenzgängererfahrung leistet er große Integrationsarbeit. Er ist ein Brückenbauer, und wirkliche Integration fängt immer unten an. Jeden Abend schicke ich Stoßgebete zum Himmel, dass mein Postbote den neugierigen Blicken standhalte, sein Rücken lange gesund bleiben möge und die DHL seine Arbeit auch im Lohn würdigt.
Mit meiner Migration von der ländlich geprägten Metropole Krefeld in das weltoffene Berlin glaubte ich in meiner Naivität, den Klischees und der ständigen Verteidigung meines Migrantendaseins entfliehen zu können. Doch schnell stellte ich fest, dass Berlin die Champions League ist. Als ich einmal einen Berlin-Berliner nach dem Weg fragte, gab er mir herzlich und bereitwillig Auskunft. Gerade in der Anfangszeit tat es gut, einen so überaus hilfsbereiten Zeitgenossen anzutreffen. Alles hätte seinen harmonischen Lauf nehmen können in der Geschichte der weiteren Vertiefung deutsch-koreanischer Freundschaft, die seit 1883 besteht. Aber der Berliner ist ja berüchtigt für seine flinke Schnauze und musste den fast historischen Moment ruinieren, indem er mich fragte, wo denn der Rest meiner Gruppe sei. Zunächst war ich ein wenig durcheinander, bis ich verstand, dass der Mann noch eine Horde von fahnenwedelnden japanischen Touristen hinter mir erwartete. Ich bin auf Google Maps umgestiegen, und im Fall der Fälle ist der Herrgott mein Kompass.
Menschen verdienen eine zweite Chance. Wenn der Sonnenscheinpolitiker Kim Dae-jung seinen Attentätern vergeben konnte, dann kann ich das als Mensch, der mit der Maxime »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« erzogen wurde, erst recht. Vergebung befreit die Seele. Ich war gespannt, was die Zukunft in Berlin, Berlin noch so alles für mich in petto hatte.
Wenige Tage später ging ich in einen Supermarkt im Ring-Center an der Frankfurter Allee.
»Wo finde ich hier die Soja-Soße?«, fragte ich den Verkäufer.
»In der rechten Ecke, wo das Hunde- und Katzenfutter ist!«, antwortete der gute Mann mit einem breiten Grinsen.
Mit einem Schlag waren die Vorsätze in puncto Nächstenliebe nur noch Geschwätz von gestern. »Seien Sie froh, dass Dschingis Khan nicht in ganz Europa einmarschiert ist!«
» Ick wäss , die
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