Ohne Kuss ins Bett
»Ich werde dich nie wieder allein lassen, das schwöre ich.«
»Sie sind nicht Wirklichkeit?«, fragte Andie bekümmert und verwirrt. »Aber sie müssen Wirklichkeit sein.«
»Stell dir vor, sie wären es nicht«, versuchte er es erneut. »Stell dir vor, das alles wären Halluzinationen gewesen. Die Gespräche, die du mit May führtest, handelten vielleicht von Dingen, die dir selbst im Kopf herumgegangen sind. Es war vielleicht so, als wenn du mit dir selbst gesprochen hast und sie die Dinge sagte, die du nicht sagen durftest.«
Etwas an diesem Gedanken berührte sie.
»Was ist?«, fragte er sanft.
»In der ersten Nacht, als wir miteinander sprachen«, begann Andie und sah traurig aus, »da erzählte sie mir, sie sei ich in jüngeren Jahren. Sie fragte mich, wen ich jetzt liebte, und ich sagte: Will, und da fragte sie: Nein, wen liebst du wirklich?, und das warst du.« Sie sah ihm in die Augen. »Wir haben immer über dich gesprochen. Sie war so sehr in dich verknallt. Sie wünschte sich so sehr, dass du sie liebst.«
»Sie war nicht wirklich da«, entgegnete North, »und ich liebe dich.«
Andie atmete tief ein. »Ich liebe dich auch.«
Aus reiner Erleichterung schloss er für einen Moment die Augen. »Ich lass dich nie mehr im Stich. Ich werde dich niemals mehr im Stich lassen.«
»Es waren alles nur Halluzinationen«, sagte Andie nachdenklich. »Das bedeutet, dass ich die Kinder ganz verrückt gemacht habe, weil ich dachte, dass es hier Geister gibt.« Sie dachte nach. »Sie kommen einem so real vor, North.«
»Halluzinationen scheinen immer real zu sein«, erwiderte er. »Und den Kindern geht es gut. Wir werden alles gründlich mit ihnen besprechen, und wenn sie sich beruhigt haben, dann nehmen wir sie mit nach Columbus und fangen ein neues Leben an.«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Was immer du willst«, fiel er ihr ins Wort. »Wir tun, was immer du willst. Aber akzeptiere bitte, dass es hier nicht spukt. Den Rest klären wir dann auch noch.« Sie zögerte, und er fuhr fort: »Andie, dies hier ist die Realität. Es gibt in der Realität keine Geister. Du bist eine kluge Frau. Benütze deinen gesunden Menschenverstand. Du weißt, dass es hier keine Geister geben kann. Du bist unter Drogen gesetzt worden. Nichts davon war real.«
Sie biss sich auf die Lippe und nickte, und er ging um den Tisch herum zu ihr. Da erhob sie sich von ihrem Stuhl und kam ihm entgegen.
»Es wird alles wieder gut«, meinte er beruhigend, und sie schlang ihre Arme um ihn. Denn dieses Mal werde ich keinen Mist bauen und das Ganze in den Sand setzen , dachte er.
Alice tauchte in der Küchentür auf und verkündete: »Ich habe Hunger, ich sterbe vor Hunger. Was tut ihr da?« Andie löste sich von North, um das Abendessen vorzubereiten.
»Hast du Andie umarmt?«, verlangte Alice zu wissen.
»Ja«, antwortete North, »und ich werde das immer wieder tun. Also gewöhne dich am besten daran.«
»Mal sehen«, erwiderte Alice dunkel, und er überließ es ihr, Andie mit dem Abendessen zu helfen – »Keinen Broccoli!« –, um sich um die übrigen Verrückten im Hause zu kümmern.
Andie erledigte das Kochen und Servieren des Abendessens wie eine Traumwandlerin. Sie kämpfte damit, die sich widersprechenden Eindrücke des Gefühls, »Ich-stehe-unter-Drogen«, und der Gewissheit, »Es-gibt-hier-wirklich-Geister«, einzuordnen. Sie glaubte und vertraute North, denn er würde sie nie belügen, aber sie glaubte auch an May.
Nur dass alles, was May darüber gesagt hatte, wie sie sich nach North sehnte, auch in ihr selbst war. Sie war allein und sexuell frustriert und hatte sich nach North gesehnt, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie den Job mit den Kindern nur deshalb angenommen hatte, um in Kontakt mit ihm bleiben zu können. Das junge Mädchen mit dem lockigen Haar, genau wie ihres, hatte North geliebt, so wie sie ihn vor zehn Jahren geliebt hatte. May tanzte, wie sie vor zehn Jahren getanzt hatte und wie sie mit Alice in der Küche wieder angefangen hatte zu tanzen. Vielleicht waren die Halluzinationen einfach ihre Art, zu der Wahrheit zurückzufinden, dass sie North liebte. Wenn sie May vor sich sah, bedeutete das vielleicht, sich selbst so zu sehen, wie sie sein sollte, sorglos und umhertanzend und ohne Vorbehalte in North Archer verliebt.
Wenn das die Wahrheit war, dann war alles gut. Dann war sie nicht von May »besessen« und ferngesteuert worden, sondern sie war durch die Drogen und den Brandy so sehr entgleist, dass
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