Okarina: Roman (German Edition)
versengt, ist das Lehnholz entbehrlich. Anders die Bank. Wohl frißt sie Platz, doch füllt sie den vernünftig aus. Unter ihr reihen sich Schuhe, die ausschließlich meine sind; auf ihr trocknet weder Pilz noch Gras, und kein Sittich parkt auf dem Möbel. Zwar wächst ein neu Geschlecht überfälligen Papiers auf ihm heran, doch sind Stromrechnungen oder Mahnbescheide nicht darunter. Die einen lasse ich Sache zwischen Kraftwerk und Bankinstitut sein; die anderen entfallen, weil Unbezahlbares dank meiner barometrischen Umsicht gar nicht erst aufläuft.
Freilich, solche Ordnung gilt nur, solange noch Ordnung ist. Meine Lust, Herrlicher Baikal zu summen oder Suliko ins Tongefäß zu pusten, hab ich vorerst im Zaum. Aber gesetzt, ichfinde zum passenden Wort die Melodie, die will ich brüllen. Gesetzt, es kommt, wie geahnt. Gesetzt, die Wasser steigen, weil selbst Berge schmelzen, an denen die Titanic noch zerbarst. Gesetzt, ums heimische Haus springen als Flut die heimischen Wasser von Havel, Elde, Warnow und Tollense und die von Alster wie Bille dazu. Gesetzt, dann schreit es vor meiner Hütte: Nimm uns herein, du braver Mann, es hat uns die Böte fortgespült! Was da Kajüte, Kielraum tut’s auch! Goldenes Gold bieten wir dir, goldene Nüsse gegen hölzerne Schale, o du unseres Herzens Partner! Nicht nur ein Konto, die ganze Bank für einen schmalen Platz auf deiner langen Bank! Zehn Faß Perlen gegen zwei Dalben deines werten Fasses, guter Freund! Ein Königreich für die köstliche Tonne, Bruder! Ein Pferd, ein königliches Pferd, des Königs ganze Reiterei für deinen beschissenen Verschlag, du räudig roter Hund!
Da gehe ich, von Herzen schlecht, allein auf Fahrt. Lasse Zunder und Plunder zurück. Das Kaderzeug, den Flötenkram und alle guten Gebote. Rate mir, als hätte ich des Rebbes Sagen: Reiß dich vom Ofen und binde die Bank zum Floß! Auf ihm steche ich in tosende See, von der mein See ein Tropfen ist. Noch treibt kein Eis, noch schmecken die Wasser süß; ich kann mich, wer weiß, hinauf zu den Ruhner Bergen bringen. Dort halten die Fluten, und alle Zähler stehen still. Wind bläst von Ost; wenn er nicht dreht und mein Nachen den Schlägen der Leiste gehorcht, wartet ein Ufer. Gegen die Kälte ein Holz hätt’ ich dabei.
Informationen zum Buch
Aus dem Aufenthalt kennt man diesen Niebuhr, der in polnischer Gefangenschaft erfuhr, was die Nazis und die Wehrmacht angerichtet hatten. Die »polnische Abteilung seines Lebens« behält ihr Gewicht auch für den Erzähler dieses Romans, zumal seinerzeit Merkwürdiges geschah: Stalin habe ihn in den Kreml holen lassen, zu seinem »Ideengefäß« ernannt und auf einer Okarina gespielt – Flötentöne, die ihn lange besetzt halten. Und seitdem ihm damals – eine ebenso mythische Angelegenheit – Norma-Marilyn begegnet sei, durchziehen Liebesgeschichten sein Leben. Zunächst wird er Lehrer an einer Parteischule, dann Setzer und Drucker, schließlich Redakteur einer Zeitschrift für Kommunikation, OKARINA benannt. Mit Behagen verweilt der Erzähler bei angenehmen Momenten seines Lebens, erzählt von Liebe, vom Tischbeißen und vom Klassenkampf, wobei er sich – wie man das bei Kant kennt – keinen Wortwitz und keine Anspielung entgehen läßt. Doch bedenkt er auch den möglichen Irrtum. Deshalb ist auch von Sturheit und Dogmatismus die Rede, vom Wirken unterschiedlichster Geheimdienste und schließlich von einer zunehmenden »Vereisung«. So ist ein gewichtiger Roman entstanden, der sich einer sehr beteiligten Auseinandersetzung mit der Geschichte der DDR verschrieben hat.
Informationen zum Autor
H ERMANN K ANT wurde 1926 in Hamburg geboren. Nach einer Elektrikerlehre war er Soldat, von 1945 bis 1949 in polnischer Kriegsgefangenschaft Mitbegründer des Antifa-Komitees im Arbeitslager Warschau und Lehrer an der Antifa-Zentralschule. Ab 1949 studierte er an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Greifswald, 1952 bis 1956 Germanistik in Berlin. Danach war er wissenschaftlicher Assistent und Redakteur, von 1978 bis 1990 Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes.
Er veröffentlichte die Romane »Die Aula« (1965), »Das Impressum« (1972), »Der Aufenthalt« (1977), »Kormoran« (1994) und »Okarina« (2002), die Erzählungsbände »Ein bißchen Südsee« (1962), »Eine Übertretung« (1975), »Der dritte Nagel« (1981), »Bronzezeit« (1986), »Die Summe« (1987) sowie 1991 »Abspann. Erinnerung an meine Gegenwart« und »Escape. Ein WORD -Spiel« (1995).
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