Okarina: Roman (German Edition)
joggten, trampelten sich die Füße warm, füllten ihren Wanst mit heißer Wurst und heißem Grog beziehungsweise boten diese in eilig gemieteten Buden feil, ließen in der Bucht zwischen Rotherbaum und St. Georgdie Luft erzittern vom niedersächsischen Warnruf Haggel de Glitsch! oder vom obersächsischen Bahne frei! , von Wehklagen gefallener Knaben und Wonnelauten gelockerter Mädchen, von Marktbericht und Kindermund und Brunftgeschrei, von der Mütter Suchmeldungen und der Väter Wir-Gefühl, von Maffay und Madonna, von Techno und Petersburger Schlittenfahrt, von Waldeslust! und, dies aus tiefster Brust, O, what a beautiful morning, o, what a beautiful day.
Natürlich machte der Sender nicht halb so viele Worte wie jetzt ich. Er sagte nur, das Eis sei verläßlich, und mindestens ein Dreißigstel Hamburgs habe sich zum Fest auf ihm eingefunden. Den Rest der Worte machte ich – im Kopf, hoffe ich, denn ich war allein im Auto, als mir die gefrorene Alster gemeldet wurde.
Versteht sich, daß ich bei Wittstock keinen Haken ostwärts schlug, sondern einen westwärts, kaum hatte ich beschlossen, den Frost von Mecklenburg gegen den von Hamburg einzutauschen. Eben noch bei Denkwürdigkeiten zwischen dem Storchendorf Linum und dem Rätselort Herzsprung, warf ich mich kopfinnen um jene Spanne voran, die ich, wollte ich der hunderttausenderste beim Eisfest sein, auf Rädern zurücklegen mußte. Und folgte insoweit Hörensagen, als ich damals wie heute nicht wußte oder weiß, welche der Bilder in meinem Kopf von mir aufbewahrt und welche von meiner Mutter überliefert worden waren.
Aber ja, rufe ich, sobald das Thema aufkommt, aber ja, die zugefrorene Alster, rufe ich und sehe die Welt, wie man sie sieht, wenn man zwei Jahre alt ist und in Decken gebündelt in einem Schlitten mehr liegt als sitzt und über glatten Boden durch kalte Luft und ein lichtdurchflecktes Dunkel gezogen wird, in dem sich vertraute Gerüche mit unvertrauten Düften und oft vernommene Geräusche mit unerhörten Lauten derart mengen, daß der eisige Abend mein Lebtag wiederkehrt als ein mit Scherben in Schiefer gekratztes Bild.
Selbstredend hat meine Mutter etliche Einzelheiten beigesteuert, als wir die Sache wer weiß wie oft beredeten. Sie hat das Jahr 1928 genannt, in dem sie beim Hamburg-Besuch mit mir aufs Alstereis geraten war, sie hat von Gaslaternen undPetroleumlampen gewußt, von Spiritus, Bouillonwurst und gebrannten Mandeln, sie hat sich des Polterns meines Schlittens und des Geschreis der Eisläufer entsonnen und einer Drehorgel, die wieder und wieder Waldeslust schrie. Mit der Frage, wieso ich mich so vieler wehender Röcke erinnere, bin ich ihr aus Rücksicht auf sie wie mich nicht gekommen. Fest steht, diese wie hundert andere Einzelheiten schütten sich vor mir aus, wenn ich aufgefordert werde, von etwas zu berichten, das früh war und mich immer noch regiert.
Gemeinhin reicht ein Zuruf nicht hin, schon gar nicht einer dieses Senders, mich aus der eingeschlagenen Bahn zu holen. Warum dann der? Wassergeld, Klempnergeld, verplempertes Geld hätten Gründe sein sollen, mich auf festem Kurs zu halten. Wieso pfiff ich auf Kosten, drehte nach West statt Ost und setzte meine Finanz aufs Spiel, um an einem Spiel beteiligt zu sein, das Hamburg wagt sich aufs Eis! heißen könnte. Oder Hamburg kann übers Wasser gehn!
Ich habe es noch und noch begrübelt und sage, auch wenn es mich belasten muß: Nicht um ein Spiel, um mein Leben ist es gegangen. Töricht, wie man sein kann, wo es Letztes gilt, habe ich gedacht: Da will, da muß ich hin, dort werden sie Platz für mich haben, von dort kam ich her, dort bin ich gewesen, dort sind so viele, daß es nicht ankommt auf einen, dort ist alsterweit Raum und also Raum für mich, dort, wenn sie die Festgäste zählen, zähle ich mit. Und zähle womöglich noch, wenn Fest und Eis vorüber sind. Zähle wieder, lebe wieder. Aufs Eis wollte ich, um mich vom Eis zu befreien, Eisgang erhoffte ich vom Eisgang, brechende Panzer, Schollenfahrt, freie Fahrt endlich wieder.
Erkennen werden sie mich, habe ich gemeint, aber nicht so, daß sie weichen, sondern Zeichen des Erkennens geben. Bist du nicht? Bist du nicht der aus dem Schlittenbündel? Warst du nicht mit deiner Mutter hier? Hast du nicht allen Ernstes Heimweh nach diesem Wasser gehabt? Und bist nun zu ihm heimgekehrt? Aufs Eis nach all dem Eis? Nach Bögen um die Welt eingebogen in heimische Schlittschuhbahn? Zurück beim Fest im Nest?
Ach, Nest und,
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