Oksa Pollock. Der Treubrüchige
für einen jungen Menschen.«
»Tugdual war schon immer fasziniert von der Liebsten-Entfremdung«, antwortete Zoé. »Er war richtig gefesselt von der Geschichte meiner Großmutter und überhaupt allem, was mit dem fünften Stamm zu tun hat. Einem Durchscheinenden gegenüberzutreten, steht doch ganz oben auf der Liste seiner morbiden Phantasien.«
Oksa schaute fassungslos zwischen Zoé und Tugdual hin und her. Was ihre Freundin da sagte, war entsetzlich. Tugdual hingegen schwieg nur. Er stand mit geballten Fäusten da und schien Zoé mit seinem Blick durchbohren zu wollen. Oksa kam es vor, als ob sie für die beiden gar nicht mehr existierte. Oder, schlimmer noch, als ob sie nur ein Spielball in einer lange schwelenden Auseinandersetzung wäre. Tugdual und Zoé benutzten sie bloß, er aus Machtgelüsten, sie aus Rachedurst. Oder um der Wahrheit Genüge zu tun? … So oder so, es traf Oksa mitten ins Herz.
»Außerdem steht für ihn sowieso nichts auf dem Spiel, weil er Oksa ja gar nicht liebt«, schloss Zoé ungerührt. »Für ihn ändert sich also nichts. Für uns allerdings sehr viel: Die Liebsten-Entfremdung würde nicht funktionieren, weil der Durchscheinende nicht satt würde.«
Ein Raunen erhob sich unter den Mauerwandlern und den Rette-sich-wer-kann. Alles lief irgendwie falsch.
»Aber ich weiß, wer genügend Liebe im Herzen hat, um Oksa zu retten«, fuhr Zoé unbeirrt fort.
»Wer denn, meine liebe Urenkelin?«, flötete Ocious, auf den Zoés unerschrockenes Auftreten einen starken Eindruck machte.
Als ob Oksa nicht von alldem schon verwirrt genug gewesen wäre, hörte sie nun auch noch ganz deutlich, wie Tugdual murmelte: »Nein, Zoé …« Dann stürzte er sich aus dem Fenster, dessen Scheibe der Tintendrache zertrümmert hatte, und flog davon. Und Zoé lieferte mit einer Stimme, die nur noch ein Hauch war, die ultimative Lösung:
»Ich.«
Nichts ist, wie es scheint
V
or den Augen der entsetzten Rette-sich-wer-kann fasste Ocious Zoé mit festem Griff an den Schultern und führte sie wortlos ein paar Schritte von den anderen weg. Falls der Oberste der Mauerwandler und sein Sohn Orthon anfangs noch einen Hauch von Skrupel empfunden hatten, den Vorschlag des Mädchens anzunehmen – immerhin gehörte sie zu ihrer Familie –, so war jetzt nichts mehr davon zu bemerken. Im Gegenteil: Die beiden Männer waren sich zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen wirklich einig. Aus der Rache an den Knuts war nun zwar nichts geworden, doch Remineszens so tief zu treffen, war noch viel erhebender! Die schändliche Tochter, die verfeindete Schwester. Diese Verräterin an der eigenen Familie. Bis jetzt hatte sie alle Prüfungen überstanden. Sie hatte sich immer wieder gegen sie gestellt und sich unverwundbar gezeigt. Doch dieser Schlag versprach, hart zu werden. Er würde Remineszens endgültig niederstrecken.
»Kannst du uns erklären, weshalb, Zoé? Warum du?«, fragte plötzlich Abakum, während er das Mädchen voller Trauer ansah.
Zoé blickte erst Abakum, dann Oksa an und antwortete schließlich mit gesenktem Kopf: »Ich liebe einen Jungen, der eine andere liebt.«
Ocious sah ratlos aus.
»Wird das … ausreichen?«
Die Knuts und Pavel schrien empört auf. Oksa wurde Zoés Motiv nun schlagartig klar. Auf einmal enthüllte sich die ganze furchtbare Logik ihres Tuns.
»Dieser Junge schätzt mich zwar sehr«, fuhr Zoé fort. »Aber er wird mich nie lieben. Und mir ist es lieber, ich bin meine Liebe für ihn los, als dass ich mein ganzes Leben lang auf etwas hoffe, was nie eintreten wird. Die Liebsten-Entfremdung wird eine Erlösung für mich sein.«
Oksa schüttelte benommen den Kopf. Was sie da hörte, nahm ihr den Atem. Zoé liebte Gus, das wusste sie seit Langem. Aber sie hatte nicht geahnt, dass sie ihn so liebte – so sehr, dass sie bereit war, sich für immer jeglichen Liebesgefühls berauben zu lassen.
»Aber Zoé … du weißt das doch alles noch gar nicht!«, stammelte sie. »Du weißt doch nicht, wie sich alles entwickeln wird, du weißt doch noch nicht … wie dein Leben einmal aussehen könnte! Es gibt ja nicht nur Gus auf der Welt.«
Zoé blickte abrupt auf. Auf ihrer Stirn standen tiefe Falten, ein Zeichen der Anstrengung, die sie all das kostete.
»Gus? Wer sagt denn, dass es Gus ist?«
Oksa schnappte erschrocken nach Luft. War Zoé womöglich in Tugdual verliebt? Wenn das der Fall war, dann hatte sie jedenfalls ziemlich gut Theater gespielt. In Oksas Kopf herrschte totales
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