Oksa Pollock. Der Treubrüchige
eine Überlebenschance.«
»Die haben wir doch auf der ganzen Welt nicht mehr«, schluchzte Kukka.
»Noch ein Grund, uns zu überlegen, wo unsere Chancen am besten sind«, sagte Gus. »Ich bin dafür, dass wir nach Hause zurückkehren.«
»WAS?«, schrien die anderen und sprangen von ihren Sitzen auf.
»Wie meinst du das?«, fragte Virginia.
»Ich denke, wenn es unseren Familien gelingt, aus Edefia zurückzukommen, dann werden sie jeden von uns zu Hause suchen«, fuhr Gus fort. »Das wäre doch das Normalste.«
»Und wenn es kein ›zu Hause‹ mehr gibt? Was machen wir dann?«, fragte Brendan.
»Dann bleiben wir an einem Ort zusammen, den sie leicht finden können«, schlug Andrew vor.
»Wir können nicht gemeinsam losziehen. Es stehen zu viele Dinge zwischen uns«, wandte Greta ein, die Frau von Lukas.
»Können wir denn nicht unsere Kräfte bündeln, wie es die Rette-sich-wer-kann und die Treubrüchigen getan haben, um nach Edefia zu kommen?«, schlug Andrew vor.
»Haben sie das denn wirklich, Andrew?«, widersprach Greta und warf ihr dichtes weißes Haar nach hinten.
»Niemand ist gezwungen, sich uns anzuschließen«, entgegnete Virginia. »Jeder kann seine eigene Entscheidung treffen und gehen, wohin er will.«
Bei diesen Worten sanken alle mit düsteren Mienen auf ihre Sitze zurück. Gus beugte sich zu Marie und legte ihr die Fleecedecke, die heruntergerutscht war, wieder um die Schultern. Marie sah völlig ausgelaugt aus. Die Krankheit und die Trennung von ihren Liebsten hatten tiefe Spuren hinterlassen. Ihr Gesicht war eingefallen, ihr Körper verkrümmt und verkümmert wie Herbstlaub.
»Dein Vorschlag ist prima, Gus«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Kehren wir nach Hause zurück und warten dort.«
Das nächste Bild des Filmauges zeigte sieben Personen, die in einem großen runden Zelt saßen, ganz offensichtlich einer Jurte. Marie, Akina und Virginia hatten sich unter ein dickes Fell gekuschelt, während Gus und Andrew vor dem Kamin in der Mitte der Jurte saßen. Sie wirkten erschöpft und hatten dunkle Ringe unter den Augen, schienen jedoch ansonsten gesund zu sein. Mehrere Personen, ihren Gesichtern und ihrer traditionellen Kleidung nach mongolische Nomaden, waren mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt. Das Filmauge schwenkte zur Seite und zeigte Kukka. Eine junge einheimische Frau saß neben ihr und kämmte ihr die langen blonden Haare.
Vom Clan der Treubrüchigen war niemand zu sehen – außer Barbara McGraw, was Oksa ziemlich überraschte. Dann war sie also bei den Angehörigen der Rette-sich-wer-kann geblieben … Aber wieso? Und warum hatten ihr Gus, Andrew und die anderen erlaubt, sich ihnen anzuschließen? Sie hatte sie zwar bisher nur als jemanden erlebt, der sich passiv im Hintergrund hielt, aber immerhin war sie Orthons Frau. Auch wenn Orthon sich nicht als der Mann entpuppt haben mochte, den sie zu heiraten geglaubt hatte, so hatte sie doch jahrelang an seiner Seite gelebt, und die beiden hatten einen gemeinsamen Sohn. Bestimmt kannte sie nicht alle Geheimnisse ihres Mannes – seine genaue Herkunft, seine Ziele, die Abgründe seines Charakters –, aber es konnte ihr auch nicht alles entgangen sein.
»Wir werden doch wohl nicht bis in alle Ewigkeit hierbleiben!«, ertönte auf einmal Kukkas Stimme.
Oksa sah, wie die anderen sich ihr zuwandten. Marie schaute verzweifelt drein, doch Gus machte aus seinem Ärger keinen Hehl.
»Jetzt heul nicht schon wieder, bitte«, wies er sie mit zusammengebissenen Zähnen zurecht. »Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.«
»Wir müssen ein wenig zu Kräften kommen, bevor wir unsere Reise fortsetzen können«, erklärte Andrew. »Anstatt uns zu beklagen, sollten wir dankbar sein, dass uns diese Menschen hier aufgenommen haben. Ohne sie wären wir verloren, so allein mitten in der Wüste.«
Ein belebender Schmerz
D
ie nächste Szene zeigte die sieben Abgewiesenen in der Schalterhalle eines Flughafens, die voll von erregten Menschen war. Das Gebäude sah aus, als ob es jeden Augenblick einstürzen könnte: Die Wände wiesen lange Risse auf, zahlreiche Fenster waren zerbrochen, und der Boden war übersät mit Glasscherben und Betonbrocken. Das Filmauge schweifte durch die Halle. Oksa sah schwer bewaffnete Soldaten und Aushänge in kyrillischer Schrift. Marie saß nach wie vor im Rollstuhl, Gus hielt sich ständig in ihrer Nähe auf. Plötzlich ertönte über die Lautsprecher eine Nachricht, zunächst in einer Sprache, die wie Russisch
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