Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Grunzen aus. Brune, die ein Stück weit entfernt stand, wandte sich schluchzend ab.
»Das darf nicht wahr sein«, murmelte sie. »Wie können wir eine solche Niederträchtigkeit nur zulassen?«
Naftali drückte ihr sanft die Schulter, war jedoch zu keinem Wort fähig. Zoés Opfer zerriss den Rette-sich-wer-kann das Herz. Nur Ocious und seine Söhne sowie die grausamsten unter den Mauerwandlern beobachteten das Geschehen scheinbar ohne jede Gemütsregung. Der Durchscheinende näherte sich Zoé und schnupperte an ihr. Durch seine transparente Haut konnten alle sehen, wie sich sein Herz vor Erregung aufblähte. Zoés Augen waren weit aufgerissen, ihre Pupillen wurden groß, und ihr Blick überzog sich mit einem düsteren Schleier, der sie in eine andere Dimension, fernab der Realität, entführte. Der Durchscheinende ergriff ihre Hände und hielt sein abstoßendes Antlitz so dicht an das ausdruckslose Gesicht des Mädchens, dass er es fast berührte. Dann atmete er tief ein, zunächst langsam, dann mit einer immer wilderen, rauschhafteren Gier, bis er schließlich trunken von der gestohlenen Liebe auf den Fußboden der Höhle sank, während eine klebrige Flüssigkeit aus seinen klaffenden Nasenlöchern rann.
Ein Herz außer Dienst
D
ie düsteren Stunden, die auf dieses schreckliche Ereignis folgten, gingen über in triste, jeglichen Lichts beraubte Tage. Oksa verließ ihr Zimmer nicht mehr. Verstört wanderte sie zwischen Bett und Sofa hin und her. Seit Oksa miterlebt hatte, wie der Durchscheinende Zoés intimste Gefühle aussaugte, hatte sie jegliche Hoffnung verloren. Es war einfach zu viel gewesen. Dank des scheußlichen Mauerwandel-Elixiers war sie zwar geheilt, sie würde also nicht sterben, doch ihr war die Lust an allem vergangen. In ihrem Kopf herrschte nur noch bleiernes Grau, ihr Herz war nichts anderes mehr als ein Muskel, der sich mechanisch bewegte, jedoch keine Gefühle mehr zuließ. Diesen Dienst versagte es, weil es zu viel hatte ertragen müssen.
Versehentlich hatte sie ihr Elend noch verschlimmert, als sie ihre Sachen auspackte. Ganz unten in ihrem Rucksack hatte sie zwischen ihren Pullis und den Socken die Krawatte ihrer Schuluniform gefunden. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, sie eingepackt zu haben. Doch nun weckte dieses Stück Stoff lauter schmerzliche Erinnerungen. Wie sie es zuerst gehasst hatte, diese Krawatte tragen zu müssen! Aber dann hatte sie sich so daran gewöhnt, dass sie sie kaum noch ablegte. Sie war mehr und mehr zu einer Art Clan-Symbol geworden, einer Verbindung zu ihren Freunden, zur St.-Proximus-Schule, zu glücklicheren Tagen. Zu Gus … Mit zugeschnürter Kehle hatte sie sich die Krawatte umgebunden, mit ganz lockerem Knoten, wie sie es am liebsten hatte. Dann war sie weinend auf ihr Bett gesunken.
In der Gläsernen Säule wuchs die Sorge. Die Rette-sich-wer-kann hatten alles versucht, um die Junge Huldvolle aus ihrem beunruhigenden Zustand herauszuholen: Arzneien, Tränke, Befähiger. Die Geschöpfe blieben ständig bei ihr und übertrumpften sich gegenseitig in ihren Bemühungen, sie abzulenken oder wenigstens einmal zum Lächeln zu bringen. Zoé war – trotz allem, was sie erduldet hatte – im Zimmer ihrer Freundin eingezogen, um sie aufzumuntern. Doch alles vergebens. Oksa schaffte es nicht, sich von ihrer Traurigkeit zu befreien. Selbst die Nascentia hatte nicht geholfen, ihr Kummer war einfach bodenlos.
Auch die Mauerwandler und die Treubrüchigen wurden langsam unruhig, denn Oksas Niedergeschlagenheit hatte schwerwiegende Folgen: Die Kammer des Umhangs blieb geschlossen. Noch vor wenigen Tagen hatte es so ausgesehen, als würde ihre Öffnung unmittelbar bevorstehen, doch jetzt schien sie wieder in weite Ferne gerückt. Das siebte Untergeschoss war in dieselbe Dunkelheit gehüllt, die die letzten Jahrzehnte geherrscht hatte. Währenddessen schritt der Verfall Edefias immer rascher voran, die Erde schüttelte sich unter Krämpfen, und der Himmel versank in Düsternis. Jene, die Angehörige und Freunde im Da-Draußen zurückgelassen hatten, litten noch mehr als die anderen, weil sie das Schlimmste befürchten mussten. Oksa machte sich Vorwürfe, versuchte vernünftig zu sein, doch es half alles nichts: Ihr Zustand wollte sich einfach nicht bessern.
»Die Junge Huldvolle darf ihr Herz nicht der Garnitur der Hoffnung berauben, die es schlagen lässt«, sagte eines Morgens der Plemplem und streichelte ihre Hand.
Oksa schaute ihn mit großen Augen an,
Weitere Kostenlose Bücher