Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Labyrinth, Junge Huldvolle«, antwortete die Alterslose Fee.
Oksa nickte. Vom Labyrinth hatte ihr Abakum schon erzählt: Man musste hindurch, um zur Singenden Quelle zu gelangen, dem Ort der Erinnerungen. Der Feenmann hatte dort mit eigenen Augen den Tag seiner Zeugung gesehen – der zugleich der Tag seiner Geburt war. Erst da hatte er verstanden, woher er kam und wer er in Wirklichkeit war. Aber sie, hatte sie wirklich Lust, irgendeinen Moment aus ihrem Leben zu sehen? All ihre Erinnerungen bereiteten ihr doch nur furchtbaren Kummer, deshalb vermied sie jeden Gedanken daran.
»Warum ist die Mauer so hoch, wenn man doch vertikalieren oder durch Mauern gehen kann?«, fragte Oksa, um sich abzulenken.
»Das denkt Ihr«, gab die Alterslose Fee zur Antwort. »Aber sie ist in Wirklichkeit nur eine Erscheinung, ein Symbol. Auch wenn sie nur eine einfache Spur im Sand wäre, könnte selbst der beste Vertikalierer oder der geschickteste Mauerwandler nicht ins Labyrinth gelangen, sofern er nicht eingeladen wurde.«
»Und ich bin es?«
»Ihr seid es. Ich werde Euch helfen, den Weg zur Quelle zu finden. Jemand erwartet Euch dort.«
»Wer?«
Zum ersten Mal seit Tagen öffnete sich etwas in ihrem Inneren, und sie spürte eine Lebendigkeit, die sie selbst überraschte. Wen wünschte sie sich am meisten zu sehen? Ihre Mutter? Dragomira? Gus? Tugdual? Sie seufzte und schüttelte den Kopf, um nicht in Tränen auszubrechen. Es war unmöglich, eine Wahl zu treffen.
»Folgt mir.«
Oksa sah zwar nur einen goldenen Schatten, doch sie spürte, wie sie an der Hand gefasst wurde. Das Tor öffnete sich und gab den Blick auf ein Gewirr ineinander verschachtelter, unterschiedlich hoher Mauern und Hecken frei. Das Ganze war so unüberschaubar groß, dass es sich über die gesamte Erde zu erstrecken schien.
»Na, dann mal los«, murmelte Oksa.
In diesem Labyrinth die Orientierung bewahren zu wollen, wäre dem Versuch gleichgekommen, sich ohne Navigationsinstrumente auf dem offenen Meer zurechtzufinden. Die Hecken hatten infolge der Trockenheit zwar alle Blätter verloren, waren aber dennoch unüberwindbar und sahen alle gleich aus. Das Ganze hatte nichts gemein mit den üppig grünen Irrgärten in den Parkanlangen französischer Schlösser, in denen Oksa früher mit ihren Eltern immer so viel Spaß gehabt hatte. Damals hatte sie so vieles nicht gewusst, wer sie war, woher sie kam … Dragomira hatte stets als Erste aus dem Labyrinth herausgefunden, und Oksa hatte ihr dann immer Zauberkräfte unterstellt, woraufhin ihre Großmutter bloß geschmunzelt hatte. Nicht ohne Grund, wie Oksa heute wusste … Sie seufzte tief und konzentrierte sich wieder auf den goldenen Schatten, der sie ohne jedes Zögern führte. Nach einer Stunde veränderte sich das Aussehen des Labyrinths ganz allmählich. Die Wege wurden breiter, und die Mauern waren nicht mehr so hoch, sodass man am Horizont Hügelketten erkennen konnte. Am Fuß eines dieser Hügel schimmerte ein bläuliches Licht. Das musste die Singende Quelle sein. Oksa ging um die letzten Hindernisse herum. Ihr Herz klopfte so heftig wie schon lange nicht mehr. Als sie nur noch ein paar Meter vom Eingang entfernt war, erhoben sich vor ihr plötzlich zwei eindrucksvolle Kreaturen: Auf ihren Löwenkörpern saßen Frauenköpfe … Oksa stand vor den mythischen Corpusleox! Die Alterslose Fee schob sie vorwärts, und so blieb Oksa nichts anderes übrig, als sich ihnen zu nähern. Die Corpusleox – sie saßen aufrecht da, die Vorderpfoten brav vor sich aufgestellt – waren über zwei Meter groß. Sie waren wunderschön, aber auch ziemlich Furcht einflößend. Plötzlich stießen sie ein Brüllen aus und warfen dabei die Köpfe mit dem Frauenhaar nach hinten. Oksa wich ängstlich einen Schritt zurück, doch die Alterslose versperrte ihr den Rückweg, und eine der beiden Corpusleox hob nun auch noch die Pranke. Als Oksa die langen, scharfen Krallen sah, schrie sie entsetzt auf. Diese Kreatur würde sie zerreißen! Oder ihr zumindest die Schulter zerfleischen. Die Pranke senkte sich, und Oksa schloss die Augen.
»Wir warten schon seit einer Ewigkeit auf Euch«, ertönte da die Stimme der anderen Corpusleox.
Beide brüllten erneut. Oksa machte die Augen wieder auf und verstand schließlich, dass die Geste sie nicht hatte erschrecken sollen, sondern ein Willkommensgruß war. Und nun verneigten sich die beiden Kreaturen auch noch vor ihr und senkten als Zeichen des Respekts das Haupt.
»Tretet ein.
Weitere Kostenlose Bücher