Oksa Pollock. Die Entschwundenen
war zu nichts mehr nütze und fiel in seiner Gunst ab. Ich konnte es verkraften – dank Leomido und seiner Liebe, die mich daran hinderte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber für Orthon gab es keinen solchen Trost. Mein Bruder litt unter der Missachtung durch meinen Vater. Und dabei gab er sich solche Mühe, seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Tag für Tag sah ich ihn kämpfen bei dem Versuch, sich selbst zu übertreffen. Und Tag für Tag ließ ihn mein Vater abblitzen, er war gleichgültig oder – schlimmer noch – spöttisch: Er machte sich über ihn lustig und erniedrigte ihn über die Maßen. Immer waren die anderen besser. Immer! Ich weiß nicht, warum Orthon nicht aufgab. Er hätte gehen sollen. Die Beziehung abbrechen. Egal, was er tat, es war Ocious nie gut genug. Außer an dem Tag, als Orthon sich zum Komplizen der Liebsten-Entfremdung machte. Da geschah etwas Entscheidendes: Zum ersten Mal sah Ocious seinen Sohn als Verbündeten, der vielleicht einen Platz an seiner Seite verdient hatte. Nach jahrelangen Bemühungen wurde Orthon endlich die höchste Belohnung zuteil. Aber das Böse hatte Einzug in seinem Herzen gehalten: Der Hass und die Rachegelüste hatten unwiederbringlichen Schaden angerichtet. Der Liebesentzug hatte Orthon zu einem Mann gemacht, der nach Anerkennung lechzte.«
»Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er war, damals, in Edefia«, sagte Brune. »Er war immer in Ocious’ Nähe, die Augen weit aufgerissen vor Furcht und Bewunderung. Es war unheimlich.«
»Furcht und Bewunderung, die ihn schließlich zugrunde gerichtet haben«, nahm Remineszens den Faden der Erzählung wieder auf. »Und die sich im Lauf der Jahre in zerstörerische Liebe und in Hass verwandelt haben. Aus Orthons ungeheurem Minderwertigkeitskomplex wurde zerstörerische Ambition. Alles, was er tut, dient dazu, Ocious zu beweisen, dass er der Größte ist. Dass der Schüler besser geworden ist als der Lehrer.«
»Und was ist, wenn Orthon bei seiner Ankunft in Edefia feststellt, dass Ocious tot ist?«, fragte Tugdual.
»Ich glaube, sein Lebenstraum wäre zerstört«, erwiderte Remineszens. »Es würde ihn wohl umbringen, weil der Beweis, den er Ocious liefern will, das Einzige ist, was ihn am Leben hält.«
»Das ist ja grauenvoll!«, rief Oksa und ertappte sich dabei, dass sie fast so etwas wie Mitleid mit dem Feind der Rette-sich-wer-kann empfand.
»Ja, das ist es«, stimmte Abakum ihr zu. »Aber wir dürfen uns nicht zu Mitgefühl hinreißen lassen …«
»… sonst sind wir verloren«, ergänzte Remineszens.
»Und warum lassen wir ihn nicht seinen Vater wiedersehen? Soll er ihm doch zeigen, was aus ihm geworden ist, wie mächtig und überlegen er ist. Und dann lässt er uns alle in Frieden«, schlug Oksa vor.
»Es ist viel schwieriger, als du denkst«, sagte Abakum. »Orthon kann nicht mehr zurück.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Oksa.
»Es gibt drei Arten von Macht, meine Kleine: Gleichgewicht, Beherrschung und Zerstörung. Mal angenommen, Orthon sieht seinen Vater wieder, und dieser erkennt die neu gewonnene Macht seines Sohnes nicht an, dann wird Orthon nicht zögern: Er wird sich für die Macht der Zerstörung entscheiden.«
»Die ultimative Form von Macht!«, sagte Tugdual und zwinkerte Oksa zu. »Die Macht, zu vernichten und zu töten.«
»Aber das ist doch Selbstmord! Wie können die Treubrüchigen sich ihm in dem Fall nur anschließen?«
Niedergeschlagen sah Abakum sie an.
»Weil sie nichts von Orthons Beweggründen wissen«, antwortete er. »Tugdual hat recht: Die völlige Vernichtung ist seine ultimative Waffe. Wenn nötig, wird er keine Sekunde zögern, sie einzusetzen.«
»So, wie ich Ocious kenne, müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen«, warf Remineszens ein. »Falls er noch lebt, ist er sicher der Alte geblieben, und die Tatsache, dass er in Edefia eingesperrt war – während andere nach Da-Draußen konnten –, hat seinen Hass bestimmt noch geschürt. Wenn Orthon ihn findet, droht ihm eine herbe Enttäuschung: Ocious wird ihn erneut erniedrigen …«
»Wenn es Ocious gelungen wäre, Edefia zu verlassen, hätte er mit Sicherheit die Welt erobert«, sagte Dragomira nachdenklich.
»Ja, das hätte er. Orthon hätte es auch gekonnt, aber die dunkle Kraft, die ihn antreibt, verleitet ihn eher dazu, zu zerstören. Das ist der Trumpf, den er noch im Ärmel hat. Denn wer ist der Mächtigere? Der Herrscher oder der Zerstörer?«
»Und wir? Welche Rolle
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