Oksa Pollock. Die Entschwundenen
Na los, Oksa, sag mir, was du um dich herum siehst! Wo sind wir, Oksa? Wo sind wir?«
Oksa strengte sich an, die Ratschläge ihres Vaters zu befolgen. Sie klammerte sich an ihn, hob den Blick, schaute sich um und fing an, mit lauter Stimme die Namen ihrer Freunde herzusagen, die dicht gedrängt hinter ihnen herliefen.
»Wir sind in einem Tunnel«, begann sie, fast schreiend. »Da sind diese schaurigen Köpfe, die um uns herumschweben, und wir rennen, um ihnen zu entkommen. Hinter uns ist Remineszens, Abakum hält ihre eine Hand und Leomido ihre andere. Sie scheint ganz erschöpft zu sein, ihre Augen blicken so komisch, ich glaube, es fällt ihr schwer, den Sirenen zu widerstehen. Tugdual ist gleich neben uns. Er hat die Plempline auf den Schultern. Die arme Plempline. Sie hat die Augen ganz fest zugekniffen und sieht beinahe durchsichtig aus. Ich vermute, sie stirbt fast vor Angst. Tugdual scheint es gut zu gehen, er wirkt ganz klar.«
Plötzlich wurde ihr Stimme leise. Das Haar einer Sirene strich ihr übers Gesicht, und Oksa ließ den Kopf gegen die Schulter ihres Vaters sinken.
»Weiter, Oksa!«, schrie Pavel und schüttelte sie. »Rede weiter! Was siehst du noch!«
Oksa schreckte hoch, als würde sie aus dem Tiefschlaf gerissen, und gehorchte beinahe automatisch dem Befehl ihres Vaters.
»Ich sehe Pierre!«, schrie sie genauso laut wie ihr Vater. »Auf seinem Rücken sitzt der Kapiernix, und er trägt Gus auf den Armen. Oh nein! Gus scheint gar nicht mehr bei sich zu sein!«
Sie verstummte vor Entsetzen über das, was sie sah. Gus hing schlaff in den Armen seines Vaters, der mit tränenüberströmtem Gesicht rannte. Fünf Sirenenköpfe hatten Gus eingekreist und ließen ihr Haar über sein Gesicht streichen. Oksa konnte seinen leeren Blick sehen.
»Mama!«, sagte er. »Ich hab mir immer so gewünscht, dich kennenzulernen.«
»Sie haben Gus, Papa!«, schrie Oksa panisch. »Er sieht seine Mutter! Das ist schrecklich! Oh nein! Aber was macht denn die Plempline?«
Pavel blieb abrupt stehen, und alle anderen taten es ihm nach. Sie wandten sich zur Plempline um, die von Tugduals Schultern gesprungen und zu Pierre und dem bewusstlosen Gus gelaufen war, der das Opfer eines Trugbilds der Sirenen zu werden drohte. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, alle verharrten schweigend, bis das Geschöpf der Huldvollen das Wort ergriff.
»Das Bedauern garniert mein Herz, diesen äußersten Schritt tun zu müssen«, sagte die Plempline und fuhr mit der Hand über Gus’ Gesicht, um die Haare der Sirenen wegzuschieben.
Sie schniefte und richtete ihre großen Glupschaugen auf Oksa, die vor Angst zitterte.
»Die Sirenen werden ihre Jagd in den Herzen der kindlichsten Seelen fortführen, bis sie eine von ihnen entwendet haben. Der Feenmann hat eine Schwäche gezeigt, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre, doch er konnte seinen Geist wieder undurchdringlich machen. Die Junge Huldvolle und Remineszens sind jedoch leichte Beute. Ihr Widerstand wiegt nicht schwer genug gegen die Durchtriebenheit der Sirenen. Das große Unglück ist unvermeidbar. Die Sirenen werden die Hartnäckigkeit praktizieren, so lange, bis ein Herz sich ergibt. Der junge Freund der Huldvollen hat den Kampf nicht fortsetzen können, er hat die Preisgabe seines Herzens eingeleitet …«
»NEIN!«, schrie Oksa außer sich. »NICHT GUS!«
Die Plempline ging zu ihr und legte ihr die kleine Patschhand auf die Schulter.
»Eure Dienerschaft besitzt den Ausweg«, sagte sie in traurigem, aber fest entschlossenem Ton.
»Wie?«, fragte Oksa schluchzend.
Die Plempline bedeutete Oksa, sich zu ihr herunterzubeugen, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Mädchen wurde blass und schlug sich mit der Hand vor den Mund, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ihr Blick wanderte erst zu Gus, dann zur Plempline. Als hätten sie verstanden, kamen Leomido und Abakum herbei, schlossen nacheinander die Plempline in ihre Arme und drückten sie traurig und voll Dankbarkeit an sich.
»Die Sirenen wollen ein nobles und sanftes Herz«, sagte das kleine Geschöpf zu den anderen Rette-sich-wer-kann. »Das meine ist lebendig mit dem tiefen Wunsch, die Rettung des Freundes der Jungen Huldvollen zu bewerkstelligen. Dieser Wunsch besitzt eine Kraft, die glühender ist als jeglicher Wunsch, den einer von Euch in seinem Herzen trägt, und die Sirenen kennen kein Widerstehen angesichts dieser Verlockung. Ich erkläre meine Entschlossenheit und mein Lebewohl.«
Und
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