Oksa Pollock. Die Entschwundenen
schlimmer aber war, dass der permanent abfallende Untergrund mit scharfen, spitzen Steinen bedeckt war, die das Gehen äußerst beschwerlich machten. Mehr als alle anderen litt Remineszens darunter. Die dünnen Sohlen ihrer Sandalen boten ihren wunden Füßen schon nach kurzer Zeit keinerlei Schutz mehr. Oksa trug zwar ihre robusten und bequemen Turnschuhe, aber auch sie war so genervt davon, ständig umzuknicken, dass sie bei jedem Schritt vor sich hin schimpfte. Schließlich kam ihr eine geniale Idee. Alle zehn bis zwanzig Meter sandte sie ein Tornaphyllon-Granuk in den Tunnel, das alle Steine aus dem Weg fegte: Ein heftiger Windzug erhob sich, die Steine wirbelten durch die Luft und landeten mit einem ohrenbetäubendem Krachen am Rand des Gangs.
»Wir werden uns doch wohl nicht von so ein paar kleinen Steinen plagen lassen!«, frohlockte sie und steckte ihr Granuk-Spuck wieder ein.
Im Lichtschein, den die Phosphorille warf, marschierten die Rette-sich-wer-kann vor sich hin, begleitet von den furchterregenden Sirenen der Lüfte. Sie hatten das eigenartige Gefühl, dass die Zeit nicht mehr existierte. Ihre Uhren waren zum Zeitpunkt ihrer Eingemäldung stehen geblieben, und die kleine Gruppe hätte nicht sagen können, ob sie nun seit zwei Stunden oder seit zwei Tagen in dem unseligen Gemälde unterwegs war. Allerdings machte sich bei ihnen allmählich Müdigkeit bemerkbar. Mit einem Auge achteten sie auf ihren Vordermann, mit dem anderen auf die Sirenen, und diese doppelte Anstrengung forderte ihren Tribut. Je weiter sie in den Tunnel vordrangen, umso mehr spürte Oksa ihre Widerstandskraft schwinden. Ihre Füße kamen ihr tonnenschwer vor, und sie verspürte plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis zu schlafen. Vor ihr ging Tugdual mit der Geschmeidigkeit eines Geparden und schien im Gegensatz zu ihr nicht die geringste Schwäche zu verspüren. Oder er zeigte es einfach nicht. Plötzlich wandte er sich ihr zu und schien von ihrem erschöpften Gesichtsausdruck ganz überrascht zu sein.
»Ich löse dich mal mit den Tornaphyllons ab«, schlug er vor und zog sein eigenes Granuk-Spuck heraus.
Die Rette-sich-wer-kann gingen eine Weile schweigend weiter, nur das Krachen der Steine rechts und links entlang des Tunnels war zu hören. Ihre Schritte wurden immer langsamer, doch jeder riss sich zusammen. Bis schließlich Remineszens als Erster die Beine versagten. Leichenblass und mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den staubigen Boden sinken.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie.
»Vielleicht könnten wir eine Pause einlegen?«, schlug Abakum zur großen Erleichterung aller vor. »Aber bleibt dennoch absolut wachsam.«
Nervös und erschöpft blickten sie einander an.
»Warum sind wir bloß so müde?«, fragte Remineszens.
»Wegen der Sirenen?«, mutmaßte Oksa. »Sie versuchen doch, uns einzuschläfern, oder nicht?«
In diesem Augenblick kam eine der Kreaturen herbei, verharrte wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht und fixierte sie mit einem so grausamen Blick, dass Oksa eine Eiseskälte durchfuhr. Die langen Haare wehten ihr sanft, fast zärtlich übers Gesicht. Oksa zitterte heftig, und plötzlich tauchten unerwartete Bilder vor ihrem inneren Auge auf: Sie war jetzt nicht mehr in dem Tunnel, sondern irgendwo hoch oben … genau, in der Gläsernen Säule in Edefia! Sie stand auf dem Balkon, zu ihren Füßen erstreckte sich die Stadt, und die Menge rief jubelnd ihren Namen! Sie wandte den Kopf zur Seite, erfüllt von einem wunderbaren Glücksgefühl. Neben sich entdeckte sie ihren Vater, ein wenig gealtert, aber unverkennbar. Ein Mann betrat den Raum, und Oksa bebte innerlich, als sie ihn sah: Auch er war älter geworden. Oder, genauer gesagt, erwachsen geworden. Es war Gus! Seine Gesichtszüge hatten sich gefestigt, seine Schultern waren breiter geworden, doch er sah immer noch genauso gut aus. Er strich sich die schwarzen Haare nach hinten und sah sie aus seinen meerblauen Augen durchdringend an. Dann kam er zu ihr und drückte seine Lippen auf ihre.
»Bist du glücklich?«, murmelte er, wobei er sie an sich drückte und ihr zärtlich über den Rücken strich.
Oksa nickte selig. Sie spürte das stoppelige Kinn des jungen Mannes, zu dem Gus geworden war, an ihrer Wange. Dann fiel ihr Blick auf eine Frau, die lächelnd auf sie zukam. Es war ihre Mutter. Auch sie wirkte älter – aber vor allem saß sie nicht mehr im Rollstuhl!
»Mama! Du bist wieder gesund!«, murmelte Oksa.
In diesem Moment sprang Pavel
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