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Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Oksa Pollock. Die Entschwundenen

Titel: Oksa Pollock. Die Entschwundenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Plichota
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Verlockung des Schlafs widerstehen? Und gar der Lust, wieder die wunderbare Vision heraufzubeschwören, die sie vorhin gehabt hatte? Ihr Körper wurde mit einem Mal butterweich, und sie spürte, wie sie in einen herrlich süßen Schlummer glitt und ein wunderbares Wohlgefühl sich in ihr ausbreitete. Wie lange hatte sie kein solch schönes Gefühl mehr erlebt? Plötzlich wurde sie so abrupt in die Realität zurückgerissen, dass ihr der Atem stockte. Eine lange, züngelnde Flamme vernichtete die Sirenen, einschließlich jener, die sie mit ihren verlockenden Trugbildern im Visier gehabt hatte. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt krümmte sich Oksas Vater vor Schmerzen. Der Tintendrache auf seinem Rücken spuckte im Zorn zerstörerische Flammen.
    »Papa! Hör auf! Ist ja gut, ich bin wieder wach!«, schrie Oksa.
    Sofort war alles vorbei. Der Tintendrache zog sich zurück, und Pavel stürzte auf Oksa zu.
    »Mein Schatz … Ich dachte schon, sie würden dich entführen!«
    Er schloss sie in die Arme und drückte sie fest an sich.
    »Ich konnte nicht anders, es tut mir leid«, sagte Pavel an die anderen gewandt und hob die Schultern.
    »Das hätten kein Vater und keine Mutter gekonnt, Pavel«, erwiderte Remineszens, nach Atem ringend. »Du hast nur getan, was dein Herz dir befohlen hat, und keiner von uns wird dir das vorwerfen. Aber jetzt müssen wir es damit aufnehmen.«
    Die fünfzig verschmorten Köpfe waren fast zerfallen. Und vor den Augen der entsetzten Rette-sich-wer-kann baute sich nun eine Horde von gut hundert Sirenen auf, wütender denn je.

Ein unermesslich großes Opfer
    L
AUFT!«, erschallte plötzlich die Stimme des schwarzen Schmetterlings. »Lauft, so schnell ihr könnt!«
    Der Kundschafter schlug heftig mit den Flügeln und flog ihnen voran, tiefer in den Tunnel hinein. Pavel packte Oksa an der Hand und eilte dem Schmetterling hinterher, gefolgt von den anderen. Die Sirenen reagierten sofort und bedrängten die kleine Gruppe von hinten und von den Seiten. Obwohl sie in rasendem Tempo neben ihrem Vater herrannte, warf Oksa einen Blick über die Schulter zu den Kreaturen: Sofort überfielen sie wieder die wunderschönen Trugbilder. Ihr Schritt wurde langsamer, ebenso wie ihr Herzschlag. Pavel drehte sich nach ihr um und stöhnte vor Wut, als er sah, dass ihre Augen ganz leer geworden waren. Für Oksa war es, als wechselte sie zwischen zwei Welten hin und her: jene, in die ihr Geist sie entführte – eine strahlend helle Welt, in der sie mit ihren Eltern zusammen war, in Gus’ Armen lag und keinerlei Leid oder Angst sie quälte –, und jene feindliche und brutale Welt, in der sie in genau diesem Augenblick gegen die unheilvolle Macht der Sirenen der Lüfte ankämpfte. Die Welt ihres zauberhaften Trugbilds zog sie mit einer solchen Intensität an, dass ihr Widerstand immer schwächer wurde. Wieso sollte man auch mit solcher Inbrunst gegen etwas ankämpfen, wonach man sich so sehnte? Als Pavel bemerkte, dass seine Tochter kaum noch bei sich war, hob er sie auf seine Arme und drückte sie an sich, ohne die wilde Jagd durch den Tunnel zu unterbrechen.
    »Hör mir zu, Oksa!«, sagte er mit fester Stimme. »Hör genau zu, was ich dir erzähle! Konzentriere dich voll und ganz auf meine Worte, hörst du?«
    Oksa, die inzwischen ganz schlaff in seinen Armen hing, nickte und versuchte, sich auf seine Stimme zu konzentrieren.
    »Du bist wach, Oksa!«, sagte Pavel klar und deutlich. »Du bist zusammen mit deinen Freunden in einem Tunnel, irgendwo in den Tiefen eines Gemäldes. Bösartige Sirenen sind uns auf den Fersen und versuchen, die Sensibelsten unter uns einzufangen. Gegen mich können sie nichts ausrichten, weil ich den Tintendrachen in mir habe, der meine tiefsten Sehnsüchte erstickt. So können diese hungrigen Kreaturen sie nicht gegen mich einsetzen. Du hingegen kannst nicht gegen sie ankommen, mein Schatz, weil sie in deinem Herzen lesen können wie in einem offenen Buch. Versuche, dein Bewusstsein von den Trugbildern der Sirenen abzulenken. Denn es sind Lügen, Oksa. Was sie dir zeigen, ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur das, was du gerne sehen willst. Besinne dich auf die Realität des Augenblicks, auf das, was wir jetzt gerade erleben. Schau dir die rauen Felsen der Tunnelwände an! Schau die Steine an, die um uns herum durch die Luft fliegen! Schau den Schmetterling an, der uns einen Weg eröffnet! Denk an deine Freunde … Denk an Gus, an Tugdual. Und jetzt erzähl mir, was du siehst.

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