Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
sie wirklich geglaubt hatte, ihre Anwesenheit zu spüren, ganz so, als hätte Oksa in Fleisch und Blut neben ihr gestanden. Und doch, nein, im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass ihr nicht etwa ihre Phantasie einen Streich gespielt hatte. Und obendrein hatte Gus genau dasselbe gespürt wie sie.
»Vielleicht ist es Oksa gelungen, einen Träumflug zu machen«, warf Virginia ein, um Marie zu Hilfe zu kommen. »Das würde bedeuten, dass sie inzwischen Huldvolle geworden ist und bestimmt bald …«
»Nach allem, was ich weiß, sind Träumflüge rein geistige Reisen«, gab Andrew zu bedenken. »Damit kann man keine physische Manifestation bewirken.«
Die Stille wurde noch bedrückender und die Mienen düsterer. Und wenn nun diese Erscheinung bedeutete, dass Oksa und die Rette-sich-wer-kann in Edefia in Gefahr waren? Wenn sie der ultimative Ausdruck eines … Lebewohls waren? Marie schloss seufzend die Augen. Alles war so unvorhersehbar geworden.
»Wir müssen in den obersten Stock hinauf!«, rief Gus plötzlich. »Das Wasser steigt wieder.«
Seit ihrer Rückkehr nach London war dies schon der fünfte Hochwasseralarm. Der letzte war noch ernster gewesen als der davor. Aber da das Haus ein Hochparterre besaß, war das Wasser zum Glück nicht bis in den ersten Stock gestiegen. Dennoch hatten sie all ihre Kräfte mobilisieren müssen, um in den schlammbedeckten Zimmern wieder einen Anschein von Normalität herzustellen. Und obwohl es an Trinkwasser und an Strom sowie an allem anderen, was man zum täglichen Leben brauchte, mangelte, hatten sich ihre Anstrengungen gelohnt: Der Keller war zwar dahin, doch die Küche und das Wohnzimmer konnten wieder benutzt werden.
Diesmal allerdings bestand die Gefahr, dass alles zerstört werden würde. Im Lärm der Armeehubschrauber, die am Himmel kreisten, und der Warnungen, die mit Megafonen zu den Stadtbewohnern heruntergerufen wurden, packten Gus und Andrew Maries Rollstuhl und stiegen unter dem Geheul der Sirenen direkt ins zweite Stockwerk hinauf.
Dragomiras ehemalige Wohnung war zwar von den Gewitterstürmen und Überschwemmungen verschont geblieben, nicht jedoch von Plünderern, die sich hemmungslos an den barocken Möbeln und allem bereichert hatten, was den Zimmern einst Charme und Gemütlichkeit verliehen hatte. Nur die karmesinroten Sofas und der Kontrabasskasten, die zu sperrig gewesen waren, um sie einfach wegzutragen, schmückten noch die kahlen Zimmer. Und die Bibliothek, zu der auch Hunderte kleiner Fläschchen und Flakons mit teilweise höchst seltenen Ingredienzen zählten, war nur noch mehr ein Haufen aus Holz und Glas, bei dessen Anblick einem die Tränen kommen konnten.
Andrew und Gus stellten vorsichtig den Rollstuhl ab und rangen nach Atem. Die anderen eilten zu den Fenstern. Der Platz vor dem Haus füllte sich mit einer braunen Brühe, in der Müll und Treibgut schwammen.
»Notfalls haben wir immer noch das Streng-vertrauliche-Atelier«, sagte Gus leise.
Zum Glück hatten die Plünderer das Zimmer unter dem Dach nicht entdeckt. Wer hätte auch hinter einem Kontrabasskasten einen geheimen Durchgang vermutet? So war das Atelier unversehrt geblieben, abgesehen von ein paar im Sturm heruntergefallenen Dachziegeln und aus ihrer Verankerung gerissenen Fenstern. Doch vor allem verdankte das Haus seinen relativ guten Zustand der Tatsache, dass es Wand an Wand mit den Nachbarhäusern stand: Auf diese Weise hatten sie sich gegenseitig Schutz geboten, und die Schäden hatten sich in Grenzen gehalten. »Ein Prinzip, das wir uns zu eigen machen sollten, um die Schläge wegzustecken, die das Leben für uns parat hält«, hatte Marie finster angemerkt. Andrew, der ein geschickter Handwerker war, hatte es geschafft, die Löcher wieder abzudichten, und so hatten die Abgewiesenen ihre kostbaren Nahrungsmittelvorräte, die Dragomira einst für ihre Geschöpfe angelegt hatte, retten können. Dieser glückliche Fund bestand vor allem aus Getreideprodukten und Konservendosen, die es den Bewohnern des Hauses erlaubten, relativ unabhängig und in einigermaßen gesicherten Verhältnissen zu leben. Dennoch war die Situation nicht ganz so leicht. Obwohl die Polizei mit Amphibienfahrzeugen in der Stadt patrouillierte, blieben Plünderungen eine ständige Bedrohung. Die Straßen waren zu städtischen Guerillagebieten verkommen, überall lauerte Gefahr, und der Staat verwandelte sich in eine Militärdiktatur. Die Solidarität, die in den ersten Tagen noch geherrscht hatte, war einem
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