Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)
Formalitäten
D
er Besuch ihres Anderen Ichs am Bigtoe Square hatte Oksa zutiefst verstört. Sie hatte bisher noch keine Zeit gehabt, diese neue und außergewöhnliche magische Fähigkeit unter Kontrolle zu bekommen, nämlich ihrem Unbewussten zu erlauben, dort zu handeln, wo sie selbst es nicht konnte – wenn auch nicht körperlich greifbar. Sie verstand zwar den Mechanismus, doch sie beherrschte ihn noch nicht richtig. Aber vielleicht ließ er sich gar nicht beherrschen? Wer wusste das schon? Außer ihr und der allerersten Huldvollen von Edefia hatte noch nie jemand diese Fähigkeit besessen. Ihr fiel allerdings auf, dass wieder einmal ihre Panik den Mechanismus ausgelöst hatte. Eine panische Angst, die sie überwältigt hatte, als sie gesehen hatte, wie das Wasser über die Ufer der Themse trat und deren Bett überflutete. Als wären Zeit und Raum ausgeklammert, hatte sie sich ein paar Sekunden später in Form ihres Anderen Ichs auch schon an ihre Mutter geschmiegt, beide hatten sich in einer Art nicht fassbarer Realität wiedergefunden. Dann war Gus am Rand ihres Blickfelds aufgetaucht. Sie war auf ihn zugeeilt, um ihn an sich zu drücken, und die Zuneigung, die sie für ihn empfand, hatte sie fast überwältigt. Fast automatisch hatten ihre Lippen die seinen gestreift, und der Junge war starr vor Erstaunen gewesen. Sie hätte sich gewünscht, dass das Ganze länger dauerte, aber auch in dieser Kürze hatte ihr die Umarmung unbeschreiblich gutgetan. Es war so intensiv gewesen, als hätte sie es tatsächlich körperlich erlebt.
Dann hatte sie zurückkehren müssen. Und ein langer verzweifelter Schrei war durch die Kammer des Umhangs gehallt. Ihre neue magische Fähigkeit war zugleich gewaltig und unvollkommen. So mächtig und so flüchtig. Sie würde Zeit brauchen, um solch eine Frustration ertragen zu lernen. Viel Zeit.
Die Massage des Herzens der beiden Welten dauerte an. Lange, anstrengende Tage vergingen darüber, und am Ende war Oksa völlig erschöpft. Dragomira und die Alterslosen unternahmen alles in ihrer Macht Stehende, um sie bei dieser kolossalen Anstrengung zu unterstützen. Noch nie hatte Oksa so viel geben müssen. Sie mochte wohl eine Huldvolle sein, aber sie war eben auch ein Mensch. Daran erinnerten sie die fürchterlichen Krämpfe in ihren Armen und Händen nur allzu deutlich. Doch am schlimmsten waren die wiederkehrenden Naturkatastrophen, die den Globus ereilten und sich auf Oksa übertrugen. Je mehr Tage vergingen, umso mehr litt Oksa unter den Folgen der Stürme und Vulkanausbrüche. Ihr Körper ertrug schweigend und dumpf tausend Schmerzen. Ihre Haut bekam rote Striemen von den Lava-Auswürfen, ihre Lippen waren vom Wind und der Trockenheit der Wüsten aufgesprungen. Ab und zu ließ sie sich für ein paar Augenblicke von Dragomira wegführen, um ein wenig Kraft zu schöpfen. Dann wickelte sie sich in ihren Umhang, rollte sich ganz klein zusammen und schlief sofort ein, mitten im Raum schwebend. Das Einzige, was sie zu sich nahm, war ein besonderes Getränk, das ihre Großmutter für sie zubereitet hatte. Oksa spürte, dass ihr Magen leer war, doch sie litt nicht darunter, denn das Getränk erwies sich als höchst belebend.
»Darin bist du immer noch unschlagbar, Baba!«, rief sie und sog die Bläschen auf, die um sie herum in der Luft schwebten.
Dann machte sie sich wieder an die Arbeit und massierte entschlossen und mit neuem Schwung weiter das Herz der beiden Welten.
Zehn Tage und zehn Nächte nachdem Oksa die Kammer des Umhangs betreten hatte, schlug das Herz der beiden Welten allmählich wieder kräftiger und gleichmäßiger. Vorsichtig ließ Oksa sich zurücksinken und betrachtete die Erdkugel und die Planeten, die sich in einer vollkommenen Choreografie um die Sonne bewegten.
»Also, ich glaube, wir haben ganz gute Arbeit geleistet«, murmelte sie, die Hände in die Hüften gestützt.
Um sie herum strahlten die Alterslosen Feen und Dragomira in hellerem Glanz denn je.
»Ihr habt Eure Mission erfüllt, Junge Huldvolle«, verkündete die größte der Feen. »Das Herz der beiden Welten ist immer noch geschwächt, aber es ist gerettet!«
»Bedeutet das … dass die Katastrophen auf der Erde aufgehört haben?«, wollte Oksa wissen.
Der Lichthof, der die Fee umgab, wurde schwächer.
»Es bedeutet, dass das Ende unserer beiden Welten abgewendet wurde«, gab sie zur Antwort.
»Auf der Erde wird es immer Katastrophen geben«, warf Dragomira ein. »Das ist unvermeidlich. Aber
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