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Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition)

Titel: Oksa Pollock. Die Unbeugsamen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cendrine Wolf , Anne Plichota
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für diese unglaubliche Rettungsaktion lastete …
    Die Erde drehte sich langsam weiter. Kontinente und Ozeane folgten aufeinander, und Oksa spürte, wie die Hitze der Wüsten, die Feuchtigkeit der Tropen, die Eiseskälte der Pole durch sie hindurchwanderten. Die Temperaturschwankungen ließen sie gnadenlos frösteln oder schwitzen und unterzogen ihren Kreislauf einer harten Prüfung. Die Weite Sibiriens zog an ihr vorbei, und ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Dort, unter dem Schnee, lag ein Teil ihrer Wurzeln. Frankreich streifte ihre Wange, dann tauchte England auf. Oksa folgte mit dem Blick dem Verlauf der Themse, deren Wassermassen erschreckend angeschwollen waren. Während sie mit ganzem Körpereinsatz ohne Unterlass das Herz bearbeitete, verstand sie auf einmal, dass ihr ein Teil ihrer selbst fehlte.
    »Mama, Gus!«, schrie sie.

Ohne jeden Zweifel
    G
us Bellanger hatte seine Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und versuchte gerade, die Bodenplatten, die die Überschwemmung herausgerissen hatte, notdürftig wieder zu befestigen, als er auf einmal den Kopf hob. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, und er strich sie mechanisch nach hinten. Ein paar Sekunden später stieß Marie Pollock einen Schrei aus. Gus sah sie verdutzt an.
    »Das ist doch … nicht möglich«, murmelte er.
    Er richtete sich auf und stand wie erstarrt, die blauen Augen aufgerissen, mitten im ehemaligen Wohnzimmer der Pollocks. Virginia Fortensky – die Frau von Leomidos Sohn Cameron – ließ das Geschirr stehen, das sie gerade in der angrenzenden Küche spülte, und eilte zu ihm.
    »Was ist los?«
    Gus ignorierte die Frage und kniete sich vor Marie hin.
    »Du hast sie auch gespürt, oder?«, fragte er atemlos.
    Marie brachte kein Wort heraus. Sie klammerte sich an die Armlehnen ihres Rollstuhls und nickte bloß.
    »Oksa? Bist du da?«, rief Gus mit einer Freude aus, über die er selbst erschrak. »Oksa?«
    Alarmiert von seinen Rufen, kamen die anderen Abgewiesenen, die zusammen das Haus am Londoner Bigtoe Square bezogen hatten, herbeigerannt. Gus stand mitten im Zimmer, den Blick nach oben gerichtet, und suchte offenbar nach etwas … was er aber nicht sehen konnte. Marie befand sich im gleichen Zustand: Auch sie wirkte äußerst aufgewühlt.
    »Was ist denn mit euch beiden los?«, erkundigte sich Kukka Knut.
    Die Enkeltochter von Naftali und Brune betrachtete den Jungen neugierig. Gus ließ sich in einen wackeligen Sessel fallen.
    »Oksa war da.«
    »Was?«, riefen die anderen im Chor.
    »Oksa war da«, wiederholte der Junge und strich sich mit der Hand durch die langen Haare.
    »Aber hör mal, Gus … du weißt genau, dass das nicht möglich ist«, sagte Kukka, während sie langsam auf ihn zuging.
    Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und betrachtete ihn ungläubig. Ihre Augen waren so blau wie die eines Huskys. Gus riss sich mit einer schroffen Bewegung los, als hätte er sich verbrannt.
    »Du brauchst mich nicht so anzugaffen!«, brüllte er. »Ich will dein Mitleid nicht!«
    »Aber Gus«, verteidigte sich das Mädchen, das mit einem Mal ganz blass geworden war. »Ich habe doch gar kein Mitleid mit dir.«
    Gus sprang von seinem Sitz auf und stellte sich ans Fenster, die Hände trotzig in den Taschen seiner abgewetzten Jeans vergraben. Der Platz vor dem Haus war leer und mit Schlamm bedeckt, ein deprimierender Anblick. Aus der Ferne erklangen Sirenen: Ein erneuter Anstieg der Themse kündigte sich an.
    »Gus hat recht«, schaltete sich schließlich Marie ein. »Oksa war da. Auch ich habe es gespürt.«
    Andrew, der Pastor, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, mehr traurig als verlegen.
    »Ihr denkt, wir haben beide den Verstand verloren, oder?«, fuhr Marie bitter fort. »Aber ich kann euch versichern, dass das, was wir gerade erlebt haben, keine Einbildung war. Ich weiß nicht, wie Oksa das gemacht hat, aber sie war da! Ich habe ihre Anwesenheit gespürt, ihren Duft, ihre Haare an meiner Wange. Sie … sie hat mich in die Arme genommen.«
    Marie ließ den Kopf hängen und sank müde und niedergeschlagen in sich zusammen. Seit ihrer Rückkehr nach London war es mit ihrer Krankheit nur noch schlimmer geworden. Das Gift, das Orthons Seife an ihren Körper abgegeben hatte, zerstörte sie weiterhin. Außerdem zweifelte sie selbst an der Wahrheit ihrer Worte, und zwar mehr, als sie zugeben wollte. Ob sie tatsächlich den Verstand verlor? Vielleicht wünschte sie sich nur so sehr, Oksa wiederzusehen, dass

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