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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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seine zehn Finger, einen nach dem anderen, wie um die Sowjetrepubliken auszuzählen. Dann sagte er:
    »Da bleiben wohl nur noch wir übrig.«
    »Das wird ein großes Erbe«, sagte ich.
    »Das wird vor allem teuer, Kamerad.«
    »Teuer?«
    »Teuer. Wenn der Kapitalismus kommt, wird es teuer für uns. Oder denkst du, daß Gorbatschow sich halten könnte, wenn wir nicht schon längst pleite wären?«
    Teuer. Pleite. Es war mir neu, daß man in Kategorien von teuer und pleite denken konnte, wenn es um einen ganzenStaat ging. Zumal wir immer davon ausgegangen waren, daß es uns, der Belarussischen SSR, gut ging. Am besten. Schließlich waren immer wir das Vorbild, das Leitbild, würden als erste die Vollendung erreichen, den Kommunismus verwirklichen. Zumindest hatte Chruschtschow davon gefaselt.
    Das Jahresende nahte, ich mußte nach Hause, einmal mußte ich doch nach Hause. Auch wenn ich noch keinen Beweis dafür hatte, daß sie sich Sorgen um mich machten. Die Briefe, die wir aus Disziplinierungsgründen an die Eltern schrieben, kopierte ich getreu nach Vorlagen, die Sjarhej aufgetrieben hatte. Breschnjew ersetzte ich durch Gorbatschow. Doch der schwulstige Rest hätte meine Familie stutzig machen müssen, vor allem die Tatsache, daß es in Minsk weder einen Kasaner Bahnhof noch einen Kreml gab.
    Als mein Zug in Hrodna ankam, war niemand da, um mich abzuholen. Als ich zu Hause ankam, war niemand da, um mich zu empfangen. Ich ging zu Stanislau. Bei der Begrüßung gaben wir einander die Hand, wie zwei alte Bekannte, die sich wunderten, daß sie sich nicht so recht darüber freuen konnten, einander wiederzusehen. Und der Herr wandte sich um und sah Petrus an. Einen Moment hatte ich das Gefühl, selbst ein Verleugner zu sein. Ich hatte ihm in der ganzen Zeit vielleicht drei Briefe geschrieben, den letzten vor etwas mehr als einem halben Jahr. Sicher hatte ich mich verändert, sicher hatte sich meine Sprache verändert. Stanislau ereiferte sich, daß auch wir bald einen souveränen Staat hätten und uns nicht mehr dafür schämen müßten, im eigenen Land die eigene Sprache zu sprechen. Ich gähnte, die Fahrt hatte mich erschöpft, ich schnitt das Gespräch mit Sjarhejs lapidarem Kommentar ab, einen unabhängigen Staat müßten wir uns erst einmal leisten können. Stanislau zog lautstark Luft durch die Nase ein. Vielmehr Luft als nötig, viel mehr als im Zimmer war, er hörte gar nicht mehr auf, Luft durch die Nase einzuziehen, ich bekam Angst, er würde platzen. Und als er sie endlich wieder ausstieß, ließ er am Ende des Luftzugs ein merkwürdig niederfrequentes Stöhnen hören.
    Ich ging nach Hause und wunderte mich, wie groß Marya geworden war. Sie fand kaum mehr Platz auf meinem Arm. Ich spielte Väterchen Frost für sie, der Rest agierte als schimpfendes Volk: Alezja weigerte sich, das Schneeflöckchen zu geben, Großmama war beleidigt, weil Tanja und ich nicht rechtzeitig zum katholischen Fest nach Hause gekommen waren. Und sie weigerte sich, zum orthodoxen nachzufeiern. Vater war besoffen wie immer, aber zugleich suchte er merkwürdig gerührt meine Nähe, ich dachte, er dachte, ich hätte inzwischen irgendeine Art männlicher Initiation hinter mir, oder vielleicht roch er auch einfach nur die hormonellen Ausdünstungen des geschlechtsreifen jüngeren Männchens, Duschtag war ja schon eine Woche her. Mutter drückte mich, ohne rechte Überzeugung, wie mir schien, und Alezja war so fett geworden, daß sich ihr Bauch bei unserer Umarmung fast zu wohlig an meinem Schritt rieb.
    Und Tatsiana?
    »Komsomolzenlager. Du mußt schon mit mir vorlieb nehmen«, frotzelte Alezja.
    Ich war überrascht. Noch zu Großpapas Lebzeiten hatten er und Großmama einander neutralisiert in Fragen der ideologischen Erziehung. Die Formel, die dabei herauskam, lautete: Pioniere ja, Komsomol nein. Selbst als mein Lauftrainer eines Tages vorsprach und erklärte, aus mir könne noch etwas werden, aber ohne Eintritt in die Komsomol müßte ich immer eine halbe Sekunde schneller sein als alle anderen, erklärte Großmama, die Geschwindigkeit sei ein Geschenk des Herrn, und wennGott mich laufen sehen wolle, würde er schon für die halbe Sekunde sorgen. Jefim Abramawitsch raufte sich das Haar, aber niemand hielt dagegen. Vater, weil er gerade nüchtern war und vom Laufen ohnehin nichts verstand, Mutter, weil ihr sowieso alles egal war, Großpapa, weil ihn die Motoren riefen und er sich nicht in offene Feldschlacht mit Großmama begeben

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