Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Orte: den Deák Tér mit seinen Notverkäuferinnen, seinen Berbern, den Schicksen und Bankern. Die Hypermarkets auf den Hügeln, von denen aus die Stadt beschossen worden war, von den Nazis und den Sowjets. Die Theresienstadt: jede ihrer Telefonzellen bewohnt von einer rubinroten Revolutionswitwe. Damals, 1956, als die Sowjets die Stadt mit ihren Panzern überrollten, waren sie herbeigeströmt und brachten Waffen, Suppen, böse wie gute Worte, die einen, um damit aufzustacheln, die anderen, um Mut zu machen, Mut zum Durchhalten. Siehst du die Rote, Großpapa? Nachts häkelt sie Mülltüten zu Touristenplunder, morgens rüstet sie sich mit vier Lagen Wäsche für den Deák Tér, zwölf Stunden auf den Stufen zur Untergrundbahn, und abends kehrt sie mit den anderen zurück zum Heldenplatz, weil sie allein nicht mehr stark genug wäre für die Blicke, die auf den blauen Tüten in ihren blauen Händen ruhen. In unseren Häusern machen wir alle Lichter an. Aus Angst vor der Zukunft. Vor den Geistern der Vergangenheit. Die im Dunkeln von den Teppichen herauf flüstern, ›Vergeßt uns nicht‹, und: ›Sind wir dafür gestorben?‹ Und manchmal, aber nur an Sonntagen, da singen sie sogar, ›Szomorú Vasárnap‹, trauriger Sonntag. Und sind nur zu übertönen mit Kossuth Rádió. Hörst du das, Großpapa?
Siehst du sie, fühlst du sie, Großpapa? Buda, die Schöne, die weint, als litte sie Zahnschmerzen. Der Wind kommt heute direkt aus Sibirien, Debrecen hat er passiert, hat darüberrasiertund ist doch nicht wärmer geworden, und jetzt rauscht er hämisch durch die Rákoczy und die Andrássy Út. Und wirft mit Regen.
Und dann und wann mit faulem Obst.
Ich hatte mich für ungarische Geschichte, Sprache und Literatur eingeschrieben, Großpapa. Ich kam gerade von der Uni, da sah ich diesen jungen Mann, dessen Kleidung nicht auf soziale oder psychische Deklassierung schließen ließ. Sah, wie er an der Andrássy stand und vorüberfahrende BMW und Mercedes mit Kirschen und matschigen Pflaumen bewarf. Dabei hatte er mäßigen Erfolg in der Trefferquote, nicht nur bei den viel zu kleinen Kirschen, und diese sportliche Niederlage war es, die mich sogleich für ihn einnahm. Ich beschloß, ihn mir aus der Nähe anzusehen. Ein unfaßbarer Bartigel. Halb Mensch, halb Teppich. Er heißt Gábor, Großpapa. Ich war ein wenig enttäuscht. István hätte man ihn nennen sollen.
Ich half ihm, den Rest des Obsts treffgenauer zu verteilen, schon bald mußten wir die Beine in die Hand nehmen. Wir jagten dem Café New York zu. Ausgerechnet. Das New York ist längst verkommen zur Touristenklitsche mit abgehalftertem Mobiliar, abgehalfterten Bedienungen und einem abgehalfterten Pianisten, der bei Songs jenseits der zwei Kreuze völlig aus dem Häuschen geriet und, so hoffe ich, irgendwann einmal zwei-, meinethalben auch vierhändig, vom Leben zum Tode gebracht werden wird.
Gábor bestellte Aprikosenschnaps. Barack. Nach jedem Schluck protestierte mein Magen: Das kann doch nicht dein Ernst sein, das kannst du doch nicht mögen?!
Er entstamme einer dieser Friedensgewinnlerfamilien, sagte er, liebe es, Mischungen aus Tokajer und Billigschnaps zu saufen, angerichtet in Tetrapaks (deutscher Orangensaft). Üblicherweise stelle er sich eine Notration neben das Bett, ausAngst, er könne aufwachen und verdursten (Kindheitstrauma: die Angst zu sterben, bevor man noch einmal einen langen letzten Schluck genommen hat).
So ungefähr das erste, was Gábor angestellt hatte, nachdem er freies Reiserecht genoß, war, nach Nepal zu fliegen. Schon als Kind hatte er sich in den Kopf gesetzt, einmal das Dach der Welt zu sehen, nicht immer nur ihre schlechtgetünchten Heizungskeller. Er arbeitete als Nachtportier in einem zweitklassigen Hotel und sparte sich den Rest vom Mund ab, soff folglich entweder weniger oder mehr. Mehr auf Rechnung des Hoteliers. Und dann traf er dort ein, und das einzige, was er von Nepal zu berichten wußte, war, daß die Nepali insgesamt recht kleine Menschen seien, deren Lieblingsbeschäftigung war, aus allen verfügbaren Gesichtsöffnungen gezielt auf die Straße zu rotzen. Was auch für Gábor keine solch riesige Angelegenheit gewesen wäre, hätte er dich, Großpapa, zu Lebzeiten gekannt.
Gábor war sich selbst immer neun bis zehn Schritte voraus. Natürlich: Jeder Mensch ist sich in seiner Entwicklung immer einen Schritt voraus, und die Erklärungen hinken hinterdrein. Doch bei Gábor waren es meist zehn Schritte, und die
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