Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Abgesehen davon war das Leben in Ungarn so schweineteuer geworden, daß man sich kaum mit zwei regulären Jobs über Wasser halten konnte. Und Klára schickte sich an, eine langlebige alte Jungfer zu werden. Wir saßen über dem neunten oder zehnten Bier, die Aussis hatten längst aufgegeben, als Gábor eines Nachts herausplatzte:
»Mal angenommen, ich wollte an Klärchens Geld. Was würdest du mir raten?«
»Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie dringend ist es mit der Kohle?«
»Zehn ist dringend?«
»Zehn ist dringend.«
»Zwölf.«
»Verstehe. Mach sie kalt.«
»Mach sie kalt. Na klar. ›Heut hat sich einer aufgehängt, jetzt wird es Winter‹.«
Gábor liebte es, Petőfi zu zitieren, weiter war er in seinem Studium der ungarischen Literatur nicht gekommen. »Slowakische Klempner und sonstige Säufer« war der zweite Satz, den er auswendig konnte. Doch dieses Zitat ließ auf sich warten. Stattdessen fragte er mit niedlichem Gesichtsausdruck, dem eines ungarischen Siebenschläfermännchens:
»Nur wie?«
»Totschreien klappt nicht«, sagte ich, »also vielleicht – Elektrokution?«
Ich hatte tags zuvor in der Zeitung gelesen, daß die ungarische Polizei seit geraumer Zeit Schwierigkeiten hatte, bei Todesfällen nach Einwirkung mit elektrischem Strom zwischen Suizid und Unfall zu unterscheiden. Man war nachlässig geworden. Wir lebten in einem Land, in dem der Selbstmord zu den alltäglichen Läßlichkeiten gehörte. Wie Zähneputzen. Zähneputzen und Kaffeekochen. Es gab so viele Suizidfälle, daß sie nicht genügend Personal hatten, sie ordnungsgemäß zu untersuchen. Besonders seitdem der Staat die Kriminalpolizei marktwirtschaftlichen Sparzwängen untergeordnet hatte. Weshalb sollte es also nicht funktionieren, einen Mord so zu fingieren, daß er nach Suizid aussähe? Oder Unfall?
»Elektrokution. Aha. Soll ich mit dem Fernseher auf sie losgehen, Alter?«
»Fernseher ist unhandlich. Implodiert außerdem zu früh.«
Ich begann zu improvisieren.
»Es müßte etwas sein, das gut in der Hand liegt. Damit die Finger krampfen. Damit sie nicht mehr loslassen können. Ist Klärchen Linkshänderin?«
Gábor zuckte mit den Schultern.
»Sorg dafür, daß sie die Linke benutzen muß. Hau ihr am Vortag mit dem Schnitzelklopfer auf die Rechte, daß sie nichts mehr anfassen kann. Natürlich aus Versehen.«
»Natürlich.«
»Dann geht der Strom direkt zum Herzen.«
»Hör mal, Alter – «
»Du mußt dafür sorgen, daß die Sicherung nicht rausspringt, sonst kommt sie mit Herz-Rhythmus-Störungen davon und wird womöglich zum Pflegefall, das wäre erst recht lästig.«
»He Russe, du – «
»Ich bin Weißrusse.«
»He Weißrusse, du weißt aber schon, daß ich das jetzt nicht ernst gemeint habe, oder?«
Ich beugte mich weit über die Rezeption, stieß mit meiner Bierflasche die von Gábor an, so daß die beiden im Kontakt ein leises Plöng ertönen ließen, und sagte augenzwinkernd:
»Ich doch auch nicht, Gábor. Ich doch auch nicht.«
Zwei Jahre hatten wir so zugebracht. Uns durch die Prüfungen geschlichen, mehr auf krummen, denn auf geraden Wegen. Gábor empfahl mir, öfter einen Apfel zu essen. (Nicht allein der Vitamine wegen.) Wenn ihm das Geld ausging, half ich bereitwillig. Wenn mir der Mut ausging, half er. Und riet zu Kaffeepulver, auf eine halbe Zitrone gehäuft. (Nicht allein des Koffeins wegen).
Im dritten Jahr begann sich etwas an unserer Freundschaft zu verändern. Etwas in unser beider Leben begann sich zu verändern. Waren Gábors Obstschlachten seine Art gewesen, Dampf abzulassen, war es seine Art gewesen, dem neuen Budapest zu zeigen, wie sehr er es verabscheute, brütete er nun stundenlang auf dem Campus vor sich hin. Den Gedanken, sich seiner Großcousine zu entledigen, hatte er nicht aufgegriffen. Stattdessen sprach er immer häufiger davon, das Land verlassen, in den Westen gehen zu wollen. Er träumte von Deutschland. Von der Schweiz. Von einem Kaff namens Luxemburg, wo sie Geld fraßen und Geld schissen. Gábor war es wie dem Proktologen ergangen: Gewohnt, in Ärsche zu schauen, war ihm alles zum Arsch und jede Substanz unter seinen Augen zu Scheiße geworden. Und plötzlich schien er Gefallen daran zu finden.
Schwerer wog für mich, daß ich mit einem Mal nicht mehr der Held unseres kleinen Lebensromans war. Wir allewollen doch die Protagonisten in unseren Geschichten sein, wir wollen, daß die anderen unsere Stellung respektieren und akzeptieren und sich mit ihren
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