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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Erklärungen taumelten nur so. Seit dem ersten Semester feilte er an seiner Doktorarbeit, keine Ahnung, in welchem Fach, er studierte so ziemlich alles, was sich zeitlich mit seinen Jobs in Übereinstimmung bringen ließ, vielleicht war es Medizin, irgendwann war es Medizin, »die ultima ratio, das einzig Vernünftige für mich, für dich, für uns alle, alle sollten wir Medizin studieren, was sonst?! Streng genommen habe ich schon mein ganzes Leben lang nichts anderes getan als Medizin studiert, du auch, Alter, nur du, nur ich, nur wir alle haben es nicht gesehen und nicht verstanden, daß wir nämlich alle immer nur Medizin studieren. Prost!«
    »Und laß es nicht wiederkommen!«Gábor half mir, in dieser Stadt, in diesem Land, in dieser Wüste mein Zelt aufzuschlagen. Er verriet mir die Namen der Hauptstädte der Welt, und ich ihm, wie man sich zwei Bananen auf einmal ins Maul steckte. Und sie aß, ohne daran zu ersticken.
    Zwei- oder dreimal in der Woche besuchte ich ihn während seiner Nachtschicht im Hotel. Es war ein heruntergekommener Altbau in Terézváros, der früher Anderthalbzimmer-Mietwohnungen beherbergt hatte, mit braunem Resopal ausgekleidet, mit drei Türschlössern, einer volleingerichteten Gasküche und einem Trockenraum versehen. Wir saßen in der Lobby und paßten auf den Getränkeautomaten auf, den wilde Aussis und einsame Deutsche leerten. Wir spielten Schach bis zur Brötchenlieferung, die das Ende der Schicht ankündigte und für uns beide bedeutete, einen Abstecher in die morgendlich verschlafene Universität zu unternehmen. Um den Schlaf in der Vorlesung nachzuholen.
    Es gab fast keine Tschigorin-Eröffnung, die Gábor verpatzt hätte, Großpapa. Er war Profi. Wenn er nicht gerade im Hotel, in der Uni oder im Obstladen war, fand ich ihn in den Eingängen der Pester Metrostationen beim Schachspiel mit Westlern. Wenn er wegen unbestechlicher Polizisten unterbrechen mußte (doch, die gab es!), steckte er seinem Gegenüber einen Zettel zu, der dem in fünf Sprachen erklärte (orthographisch ebenso wie grammatikalisch bedenklich), wo er ihn in zehn Minuten wiederfand. Brett, Figuren, die drei Klappstühlchen waren in Sekundenschnelle verpackt, dann hastete Gábor der nächsten Metrostation zu und bereitete die Partie vor, stellte die Spielkonstellation wieder her, by heart.
    Selten waren sie, die Tage, an denen er niemanden zum Spielen fand. Selten, aber für Gábor umso entsetzlicher. Dann stierte er in die Luft, nahm mich, der ich mich ihm gegenübergesetzthatte, oft erst nach Minuten wahr, erst, wenn ich laut mit Mittelfinger und Daumen vor seinen Augen zu schnippen begann.
    »Was machst du?« fragte ich.
    »Ich sitze und überlege, ob ich mich umbringen soll.«
    »Fein. Und was machst du, wenn du’s nicht tust?«
    »Einkaufen gehen. Ich brauch einen Fahrradschlauch. Kommst du mit, Alter?«
    »Klar, was soll ich zuhause? Fliegen fangen?«
    Nachdem er seine Wohngemeinschaft mit drei Musikern verlassen hatte, die hinlänglich erfolglos Schamanen-Punk spielten und daran verzweifelten, zu klingen wie die Rasenden Leichenbeschauer, die einzige ungarische Band von internationalem Format, kam Gábor im Haus seiner Großcousine Klára unter. Klärchen war eine alte Jungfer, die Tag und Nacht Werbesendungen sah, weil sie nicht mehr schlafen konnte, weil sie nicht mehr essen konnte, weil sie nicht mehr gut hörte, weil ihr die Zeit viel zu schnell geworden war und sie Angst hatte, einen Fuß vor die Tür zu setzen, auf die Straße, wo laut Fernsehen die Verbrecherbanden tobten.
    Hin und wieder arrangierte es Gábor, daß ich bei ihnen übernachtete. Groß genug war ihr Haus, nah an der Universität gelegen, ich sparte mir den morgendlichen Hinweg. Und so spielte sich diese allmorgendliche Szene ab, mit Gábor (und mir) auf dem Treppenabsatz, unten, und der alten Dame in ihrem Wohn- und Schlafzimmer, oben.
    Gábor öffnete die Tür, klimperte mit seinen Schlüsseln.
    »Klärchen, ich geh dann mal, ja? Ist gleich halb zehn.«
    »Bist du das, mein Junge?«
    »Jaaa.«
    »Du mußt gehen, es ist gleich halb zehn!«
    »Jaaa.«
    »Mach’s denn gut, mein Junge, mach’s gut, und grüß den Dings von mir, den anderen, na, den – Freund.«
    »Mach ich, Klärchen.«
    Ich schätze, Großcousine Klára und er hätten ein prima Liebespaar abgegeben. Sie verstanden sich blind. Und vor allem taub.
    Gábors größtes Unglück war, daß das Geld nie ausreichte, um seinen Alkohol- und Dope-Konsum zu befriedigen.

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