Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Marktordnung.«
»Ihr zwei seid lustig«, sagte Elfchen und rang sich ein stimmloses Lachen ab, »deshalb dürft ihr hierbleiben.«
Gábor und ich trugen je einen Armvoll Bierflaschen an einen schmalen Stehtisch im hintersten Winkel des Kellerraums. Ich trank drei auf ex, holte Nachschub und beobachtete, wie von der Toilette her ein taufrisches blondes Gör weithin strahlend unserem Tischchen zuwinkte. Man sah ihr die Westlerin förmlich an. Über hüftengen Jeans trug sie ein bauchfreies Top. Bauchfrei war auch der Bauch, überflüssig zu erwähnen. Irgendwo in der Taille hatte sie sich einenbeigefarbenen Pullover für die rauhen Sommernächte im europäischen Osten festgeknotet. Es sah aus, als umklammerte sie ein seekranker Biber. Ich fragte mich, ob ich gern mit dem Tier tauschen würde, als sie das Elfchen bei der Hand nahm und unserem Tisch entgegenführte.
»Das ist meine deutsche Freundin«, sagte sie gegen die Musik anschreiend. Ich verstand den Namen nicht. Sabine. Susanne. Sibylle. Sophie. Zu meiner großen Überraschung war Gábor so vertraut mit der Kleinen, daß er ihr zur Begrüßung erst sachte mit dem Zeigefinger die Nase stupste, dann stoßweise seine Zunge in ihren Rachen schob.
Deshalb hatte er derart darauf gedrängt, zu diesem Fest zu gehen! Sein neuester Plan bestand darin, sich eine Westlerin anzulachen, Ungarn zu verlassen, sich weiter erfolgreich um sein Leben herumzulavieren. Zwischen großer Liebe und großer Chance bestehe heutzutage ohnehin kein Unterschied mehr, sagte er mir wenige Tage zuvor. Dabei popelte er sich schwarze Wollfetzen aus dem Bauchnabel.
In dieser Welt begegnen sich nur noch Künstlichkeiten, dachte ich. Ein Künstliches setzt ein anderes aus sich heraus und hält es an, es ihm gleich zu tun. Das Leben aber spielt immer anderswo. Und beliebt zu würfeln.
Gábor und seine Kleine laberten in gebrochenem Englisch. Ich betrachtete dieses Wesen, heiß geritten von unschönen nervösen Tics. Da kreisten zehnfach beringte Fingerchen um- und ineinander und gebaren vage Gesten, die mit den Lauten einer fremden Sprache rangen. Oder mit dem Schrecken, sich zum ersten Mal in ihrem Leben vaterlos und mutterseelenallein eine fremde Großstadt mitsamt ihren Menschen und Männern entwirren zu müssen. Ganz gleich: ihr faserte die Sprache regelrecht durch zehnfach Beringtes, und sie hielt das Köpfchen immer rechts, immer ein wenig rechts, alshätte sie Angst, es könnte ihr in der Mitte festwachsen. Und doch schien sie mit allen Fasern ihres niedlichen Herzchens in der festen Überzeugung zu leben, Teil von alledem zu sein, zurecht hier, da oder dort zu sein, Kind ihrer durch und durch gutbürgerlichen Eltern, die tags gut äsen und nachts gut schlafen.
Gábor verließ uns mit einem Zeichen, das ich als das internationale Signal für »Ich-brauch-jetzt-dringend-was-Leckeres-zum-Kiffen« deutete. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, bis er zurück wäre. Ich suchte Geistesabwesenheit vorzuschützen, mich hinter meinem eseligsten Gesicht zu verschanzen, aber es half nicht. Die Kleine rückte näher an mich heran. Ich bot ihr an, unser Gespräch in ihrer Muttersprache fortzusetzen. Ich bin seit der Volksschule in ihr unterrichtet worden, bin im Deutschen nicht weniger zuhause als in jeder anderen Sprache. Wahrscheinlich weil ich, ganz Weißrusse, in keiner Sprache wirklich zuhause bin.
»Wie gut ihr es habt«, sagte sie, das Köpfchen so schief, daß ich Angst hatte, es würde abknicken, »ich meine, ihr könnt hier ganz von vorn anfangen und braucht nicht den ganzen Scheiß mitzuschleifen.«
»Scheiß. Du meinst: Geschichte.«
»Mhm, naja, mein ich.«
»Du meinst also, die Ungarn hätten keine Geschichte?« »Keine Ahnung, nee. Aber ihr habt eben dieses ganze Zeug nicht gemacht, mit Judenverfolgung und so. Kollektivschuld und so. Meine Eltern sagen, man nimmt sich als Deutscher immer ins Ausland mit.«
»Potzblitz!«
Ich prostete ihr zu. Sie schien sich mit dem Strohhalm an ihrem Cocktailglas festsaugen zu wollen. Von Gábor war nichts zu sehen.
»Du sprichst ein lustiges Deutsch«, setzte sie wieder an.
»Danke, du auch.«
»Kommst du von hier?«
»Ich komme aus – «
»Toll.«
»Ja, das ist toll.«
»Darum beneide ich dich. Es muß doch toll sein, aus einer so tollen Stadt zu kommen.«
»Ganz toll, ja. Auch wenn dieser Teil der Stadt eine Geschichtsfälschung ist. Ein tolles Versehen. Aber Hauptstädte sind ja sowieso nur eine nichtrepräsentative
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