Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
ausgehen konnte. Alezja umso mehr. Es war also nicht das erste Mal, daß sie in Minsk war. Wenigstens die Sehenswürdigkeiten fielen weg.
Sie trug einen Jeansrock mit hohem Schlitz, dazu eine knallenge weiße Seidenbluse. Beides hatte ich auch an Tatsiana gesehen, nur fielen mir an Lesjas Modellen gleich die Etiketten auf. Es waren Westmarken. Natürlich waren es Westmarken.
Ich stand am Tresen eines Schnellrestaurants an, um Kaffee und einen Bananen-Shake zu holen. Ich sah die Blickeder Männer einen Moment zu lange auf Lesjas Brüsten, viel zu lange auf ihrem Po verweilen. Sie schnalzten leise mit den Zungen, sahen einander dabei herausfordernd an. Das Ewig-Weibliche zieht uns hintan. Das da war mein Tantchen, verstand das keiner, sah das keiner? Mein Tantchen, das sich mit Kartoffelzucker stopfte und verspundete, das nie älter als zwölf, höchstens dreizehn Jahre geworden war, auch wenn ihre Rundungen dem zu widersprechen schienen.
Und nicht zu vergessen: Es war mein Tantchen, das dabei war, mich zu erpressen. Ich kippte Zucker in den Kaffee, um die Bitterkeit in all dem zu überdecken.
Alezja war abhängig von Männern in ihrem Leben, oder von der Tatsache, daß Männer in ihrem Leben standen (meist irgendwo »herum«, sagte sie, meist standen sie erstmal irgendwie und irgendwo herum und starrten auf Hände oder Füße, nicht Lesjas: auf ihre eigenen). Sie hatte begonnen, ihre ganze Lebensweise auszurichten auf die Begegnung mit Männern, deshalb blieb sie tagelang aus, deshalb bekamen Tanja und ich sie selten zu Gesicht. Sie flirtete mit unglaublicher Geschicklichkeit über eine Entfernung und so viele Tische hinweg, daß es mir schwerfiel, auf diese Distanz auch nur ein Gesicht zu erkennen.
Was also wollte sie von mir ?
Oberhalb der Nase zeichnete sich auf ihrer Stirn eine Querfalte ab, als Verbindung zwischen den Augenbrauen, eine exakte Überbrückung von Braue zu Braue, als ich sie danach fragte.
»Ich dachte, wir hätten das geklärt«, antwortete sie, sog an einem Strohhalm, dann fuhr sie mit Daumen und Zeigefinger an der Wandung ihres Glases auf und ab. Sie grinste. Auf ihren Wangen sah ich, trotz der dichten Schminke, vereinzelt Sommersprossen aufscheinen, zwischen ihnen Hautporen, wie Molekülketten, Molekularmodelle. Vielleicht hatte sie soschnell abgenommen, daß ihre Gesichtshaut nicht mithalten konnte. Vielleicht war alles so schnell bei ihr gegangen, daß überhaupt nichts mithalten konnte.
Wir rasten von einem Geschäft ins nächste, Alezja immer einen oder zwei Schritte vor mir. Sie beurteilte Kleider und Schuhe nach den Markennamen, ich konnte mir nicht erklären, wie sie bei ihrem schmalen Lohn so viel Geld für diesen Kram aufwenden konnte; sie beschwerte sich, wenn sie zu langsam bedient wurde, sah her zu mir, forderte mich auf, sie zu verteidigen, ich hätte mein Schwert ziehen, den blasierten Drachen von Verkäuferinnen auf der Njamiha die Köpfe abschlagen und zur Warnung aller auf das Burgtor spießen sollen: Seht her, seht her, das geschieht, wenn ihr mein Tantchen nicht genugsam respektiert! Alezja wollte haben, wollte haben, wollte haben, und wollte nichts mehr mit sich machen lassen.
Als wir am frühen Abend zurückkamen, war ich am Ende, fiel auf mein Bett, schlief, hoffte, als ich erwachte, ich hätte die ganze Nacht geschlafen, aber es waren kaum zwei Stunden vergangen. Alezja saß am gedeckten Tisch, beobachtete mich, rief mich zu sich, war noch immer hellwach, ich fragte mich, ob sie sich zu all den Kleidern auch noch Koks leisten konnte, sie schenkte uns Wodka ein, reichte mir Fisch und Karotten, die sie zubereitet hatte, sie schenkte Wodka nach, sie wirkte aufgedreht, aufgekratzt, aber sie sprach nur wenig. Im Hintergrund lief der Fernseher, ein stummer Zeuge. Ich sah Promiboxen, sah, wie einem hippen Musiksendermoderator gerade von einem Literaturkritiker, der noch aus Sowjetzeiten stammte, ein linker Haken verpaßt wurde. Ich sah das Entsetzen in dem faltenfreien jungen Gesicht, sah das Blut aus der Nase schießen, sah es in der Zeitlupenwiederholung, in Großaufnahme.
Ich hatte das Bedürfnis, zu duschen, mich zu betrinken, doch ich sah ein, daß es nun nicht mehr zu ändern wäre,ich wollte es hinter mich, wollte es hinter uns bringen. Ich stand auf, trat vor sie hin und nahm ihren Kopf in beide Hände, strich ihre kurzen blonden Locken zurück. Lesjas Haar roch nach Rauch, nach Sandelholz, nach dem Talg der Kopfhaut. Ich küßte sie, erst seitlich neben, dann
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