Olafur Davidsson 02 - Herbstwald
Opfer war.« Sie sah Davídsson direkt in die Augen. »Als Psychologe können Sie das sicher verstehen.«
»Es ist Ihre Sache, was Sie in Ihren Bericht schreiben. Meine Aussage steht und ich werde sie in Ihrem Protokoll genauso wiederfinden, wie ich sie getätigt habe.«
Ólafur Davídsson war zur Straßenbahnhaltestelle vor dem Polizeipräsidium gehumpelt und schließlich in der Fuggerei gelandet, ohne dass er dieses Ziel vor Augen gehabt hatte, als er losgefahren war.
Der Zufall hatte ihn an den Ort des Verbrechens geführt.
Er ging am Markusplätzle vorbei, wo Arbeiter damit beschäftigt waren, Holzbuden für den Weihnachtsmarkt aufzubauen.
Wir arbeiten mittlerweile viel zu lange an diesem Fall, stellte er plötzlich fest. Er hatte seine Kriminalanalyse in den vergangenen Tagen immer wieder den aktuellen Entwicklungen angepasst, aber das Profil blieb so vage, dass es beinahe auf jeden gepasst hätte. Für ihn führte die Spur zu Tsuyoshi Saitô und er war sich beinahe zu hundert Prozent sicher, dass er den Mord an Lea Schirmer-Lunz in Auftrag gegeben hatte.
Aber der Funke zur Fuggerei wollte nicht überspringen.
Es gab offenbar keine Verbindung von einem Kreis zum anderen – von Catharina Aigner zu Lea Schirmer-Lunz.
Woher wusste Tsuyoshi Saitô, wo er seinen Auftragskiller hinschicken soll? Das war die zentrale Frage, die sie jetzt klären mussten.
Aber es gab keinen Ansatz. Die Verbindung fehlte.
Mit einem Mal stand Davídsson vor der Schreinerei. Ricardo Gollas arbeitete an einem Stuhl, an dem ein Bein fehlte. Der Meister versuchte sich an einem alten Buffet, das Ólafur Davídsson gerne mit nach Hause genommen hätte. Es war gut erhalten, alt und trotzdem schlicht. Aufwendige Schnörkel hätten nicht in Davídssons Wohnung gepasst, aber dieses Modell war einfach genug, um sich harmonisch in seine skandinavische Wohnungseinrichtung einzufügen.
»Hallo, Rico«, sagte Davídsson, der sah, dass Ricardo Gollas ihn noch nicht bemerkt hatte, weil er mit dem Rücken zu ihm arbeitete.
»Der Geselle hat jetzt keine Zeit«, mischte sich der alte Mann ein. Er konnte sich offensichtlich nicht mehr an Davídsson erinnern oder es interessierte ihn nicht mehr, woran er sich erinnerte.
»Das ist eine polizeiliche Angelegenheit. Halten Sie sich da raus«, entgegnete Davídsson barsch.
Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch und grummelte etwas Unverständliches.
»Haben Sie den Mörder endlich gefunden?« Ricardo Gollas rührte in einer alten Dose mit Leim herum. Offenbar musste die zähe Masse ständig in Bewegung bleiben, um nicht fest zu werden.
»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Können wir irgendwo ungestört reden?« Davídsson sah erst auf die Leimdose und dann zu dem alten Mann, der sich jetzt unüberhörbar die Nase schnäuzte.
»Wir können uns draußen auf die Bank setzen, wenn Ihnen das nicht zu kalt ist«, schlug Ricardo Gollas vor.
»Ich habe mit dem Bruder Ihrer Exfreundin gesprochen.«
»Martin.«
»Ja. Sein Nachname ist Schirmer-Lunz.«
»Der bescheuerte Name passt zu ihm.«
»Vielleicht. Ihre Exfreundin hatte in Wirklichkeit den gleichen Nachnamen.« Ólafur Davídsson sah ihm eine Weile schweigend dabei zu, wie er weiter in der Leimdose rührte. Seine Augen waren immer noch traurig. »Sie hieß eigentlich Lea Schirmer-Lunz. Sie war im Zeugenschutzprogramm und musste deshalb hier unter falschem Namen wohnen.«
»Zeugenschutzprogramm?«
»Ja. Sie ist während ihres Studiums in Frankfurt Zeuge mehrerer Verbrechen geworden und musste zu ihrem eigenen Schutz hier in der Fuggerei untertauchen.«
»Ist sie deshalb ermordet worden?«
»Wir vermuten es. Hat sie irgendwann einmal Andeutungen gemacht, die Ihnen jetzt nicht mehr so seltsam erscheinen wie damals? Irgendetwas, das mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte?«
Ricardo Gollas stellte den Eimer auf die Bank neben sich und überlegte. Der Frost zog langsam durch ihre Kleidung. Um sie herum war es still und kalt. Davídsson hatte keine Besucher in der Fuggerei gesehen und die Bewohner schienen alle im Halbdunklen in ihren Häusern auf Weihnachten zu warten.
»Ich glaube, Martin hat sie manchmal Lea gerufen, aber ich kann mich nicht mehr erinnern …« Er brach ab, als wollte er analysieren, was er gerade gesagt hatte. »Ich kann mich manchmal nicht mal mehr an ihre Stimme erinnern.«
»Ich weiß.«
»Ich dachte, es wäre ihr zweiter Vorname. Hätte ich gewusst, was für Probleme sie hatte … Sie wollte mich heiraten und ich
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