Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman

Titel: Oleg oder Die belagerte Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
durch den Park gingen, dachten beide das Gleiche: War das die Strafe dafür, dass sie in der Garküche unehrlich gewesen waren? Aber wenn es eine Strafe war, weshalb wurden dann die Lastwagen mit den Soldaten von den deutschen Bomben getroffen? Dumpf und innerlich leer stapfte Oleg weiter. Wie konnte er seiner Mutter sagen, dass er ohne Essen zurückkam?
    »Mach dir keine Sorgen, Oleg«, sagte Nadja. »Ich weiß noch einen andern Weg, Essen zu beschaffen.«
    Das kam so unerwartet und klang so unwahrscheinlich, dass Oleg verblüfft stehen blieb.
    »Ich erzähl dir’s nachher«, sagte Nadja, denn plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie Oleg in ihren gefährlichen Plan einweihen durfte. Außerdem kam ihnen gerade eine Gruppe von Trümmerräumern, Männer und Frauen, entgegen. Sie waren zu der Stelle gerufen worden, wo die Bombe eingeschlagen hatte. Was auch im sterbenden Leningrad geschah, das Leben ging dennoch weiter.

4
    »Hör zu!«, sagte Nadja, als die Trümmerräumer vorbei waren. Oleg spürte sein Herz unruhig klopfen. Der Art, wie Nadja ihn ansah – geheimnisvoll und durchdringend zugleich –, entnahm er, dass er etwas Beunruhigendes erwarten musste.
    »Ich weiß, wo eine Menge Kartoffeln liegen«, sagte Nadja. Etwas wie Triumph glänzte in ihren Augen. »Wo denn?«, fragte Oleg ungläubig. Nadja holte tief Luft. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie ein wenig ausholen sollte, doch dann verzichtete sie darauf. »Auf einem Acker vor der Stadt. In einer Miete.« Nun war es heraus. Gespannt wartete sie auf Olegs Reaktion.
    »Ach dort!«, murmelte Oleg enttäuscht. Die Äcker außerhalb der Stadt waren unerreichbar. Sie lagen im Niemandsland – zwischen den deutschen und den russischen Stellungen. Es war nicht nur verboten, sondern auch lebensgefährlich, dorthin zu gehen. Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit überfiel Oleg. Was hatte man von Kartoffeln, an die man nicht herankam? Weshalb weckte Nadja so törichte Hoffnungen in ihm?
    »Ich weiß, wie man hinkommen kann«, sagte Nadja rasch. Dann beugte sie sich zu Oleg hinunter. »Serjoscha hat mir gestern, bevor wir schlafen gingen, den Weg beschrieben.«
    Sie flüsterte es, damit er die Bedeutung dieser Worte besser erfasste.
    Beschämt schlug Oleg die Augen nieder. Seine Zweifel an Nadja, wie kurz sie auch gewesen sein mochten, taten ihm schon leid. »Serjoscha hat mir den Weg beschrieben!« Veränderte das nicht alles? Jetzt begriff er auch, weshalb Nadja diesen gefährlichen Plan ausführen wollte. Serjoscha hatte ihr den Weg beschrieben, bevor er schlafen ging, um nie mehr aufzuwachen. Unklar spürte Oleg, dass einer kurz vor seinem Tod keine falschen Dinge sagen würde und dass gerade seine letzten Worte tiefere Bedeutung hatten.
    »Ist es sehr schwierig, hinzukommen?«
    Nadja schüttelte den Kopf. »Ich weiß genau, wie wir gehen müssen«, sagte sie selbstsicher. »Sogar ganz genau.« Oleg nickte. Es war schön, über diesen Plan zu sprechen und damit für eine Weile alles andere zu vergessen.
    Ein langer Heulton der Sirenen gab zu erkennen, dass der Alarm beendet war. Von allen Seiten kamen dieMenschen wieder zum Vorschein. Eine Frau beugte sich über ihr Joch mit den zwei gefüllten Wassereimern, die sie auf der Straße hatte stehen lassen. Das Leben ging weiter. Von ihrem Plan erfüllt gingen Oleg und Nadja an spukhaft verlassenen Häusern entlang zu ihrer eigenen Straße.
    »Du musst einen Sack mitnehmen und auch eine kleine Schaufel, die du unter dem Mantel verstecken kannst«, erklärte ihm Nadja.
    Oleg nickte. Er wollte die Kohlenschaufel mitnehmen. Das Ding lag ohnehin nutzlos im leeren Kohlenkeller. »Vergiss nicht, deiner Mutter zu sagen, dass wir lange wegbleiben werden.« Nadja hatte noch viele gute Ratschläge für ihn, aber schließlich war es ja selbstverständlich, dass sich Oleg selber etwas ausdachte, um seine Mutter zu beruhigen.
    Während sie vor Nadjas Haus verabredeten, so schnell wie möglich aufzubrechen, starrte Oleg ständig zu Boden. Er wagte nicht, zu den Fenstern im ersten Stock hinaufzusehen, hinter denen Nadja wohnte. Ob ihr Vater und Serjoscha noch dort lagen? Oder war der große Wagen schon da gewesen? Verstohlen warf Oleg unter der Mütze hervor einen Blick auf die andere Straßenseite. Der alte Mann, der dort auf dem Schutthaufen gelegen hatte, war zum Glück verschwunden. Nur sein Abdruck im Schnee war noch zu erkennen.
    Es fiel Oleg nicht leicht, seiner Mutter etwas vorzuschwindeln. Aber jetzt war es

Weitere Kostenlose Bücher