Ruf der Geister (German Edition)
MÖRDER AUF PAPIER
Wolken verhüllten den Mond. Die Dunkelheit war kaum zu durchdringen, nur die Umrisse hoher Bäume hoben sich wie ein schwarzer Scherenschnitt von der Umgebung ab. Tief in seinem Inneren hörte Joshua ein Lied: Dunkle Schatten trinken das Licht des Tages aus …
Ein Schrei durchbrach die Stille. Er wollte rennen! Se ine Beine schienen wie festgefroren und der Schatten eines Unbekannten kam näher. Eine Frau erschien vor ihm, ihr Gesicht war gezeichnet von Schrecken und Angst. Blut! Überall war Blut! Die Augen der Frau schauten ihn an, sie streckte Hilfe suchend die Hand nach ihm aus. Joshua konnte sie nicht erreichen und der Song war erschreckend real zu hören: Wir gehʼn versteckte Wege – ohne Wiederkehr …
Joshua schreckte aus dem Schlaf und bemerkte, dass sein Handy rücksichtslos das Lied Für immer der Band Eisblume spielte. Verschlafen griff er zum Telefon.
„Was is ʼ denn?“, nuschelte er.
„Josh? Hier ist Erich. Es tut mir leid, dass ich dich g eweckt habe, aber wenn es nicht so dringend wäre …“
„Schon gut.“
„Kannst du nach Duisburg kommen?“
Sein Blick fiel auf die Uhr, es w ar 3:57. „Jetzt?!“
„Wenn möglich. Wir können die Leiche nicht länger hier liegen lassen.“
„Oh … okay. Wo?“
„Komm zum Hauptbahnhof. Wir sind nicht zu übers ehen.“
„Ja, gut.“
Joshua legte das Handy beiseite. Auf eine Art war er dankbar, dass Erich ihn aus seinem düsteren Albtraum geholt hatte, andererseits schien ein neuer in Duisburg auf ihn zu warten. Warum ließ er sich nur immer wieder darauf ein? Aber Erich war ein langjähriger Freund seines Vaters und Joshua wusste, dass er dem Kommissar helfen konnte, auch wenn dies eigentlich nicht seine Aufgabe war.
Die Stimme der Sängerin Ria Schenk ging ihm nicht aus dem Kopf. Noch immer hörte er die Zeilen: Wir gehʼn versteckte Wege – ohne Wiederkehr. Seufzend kroch er aus dem Bett und tastete sich durch das dunkle Zimmer. Er hasste Licht, wenn er noch nicht wach war. Erst die gedämpfte Lampe im Bad vertrieb die Finsternis in der Wohnung. Joshua sah in den Spiegel. Seine rechte Gesichtshälfte sah regelrecht zerknittert aus, da er auf einigen Falten im Kissen gelegen hatte.
Er schaute auf sein welliges Haar. „Gott, ich seh ʼ aus wie’n Wischmopp.“ Die hinteren Strähnen hingen ihm fast bis auf die Schultern, dennoch konnte er sich nicht zu einem Friseurbesuch aufraffen. Mit einem Seufzen schlüpfte er aus seinem Schlafanzug und ging unter die Dusche.
Eingemummt in einen dicken Wintermantel, stieg er später in seinen Opel Corsa und fuhr Richtung Duisburg. Auf der Autobahn befanden sich nur vereinzelte Fahrzeuge, denn der Berufsverkehr startete noch nicht so früh. Die Heizung blies ihm kalte Luft ins Gesicht und Joshua fröstelte. Genervt schob er die Lüftungsschlitze nach oben und wartete sehnsüchtig, dass endlich der Motor warm wurde und die Klimaanlage griff.
Was würde ihn dieses Mal erwarten? Natürlich eine Leiche , dachte er spöttisch.
Nach einer Weile bog er in die Ausfahrt nach Duisburg und hielt sich an die Schilder, die ihn zum Bahnhof führen würden. Er parkte schließlich direkt davor. Zwei Stre ifenwagen blockierten den Haupteingang und das Blaulicht flackerte über den Platz. Mit einem mulmigen Gefühl stieg Joshua aus und steuerte die Pforte an.
Der Polizist sah ihm entgegen und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, der Bahnhof ist gesperrt.“
„Ich weiß, Kommissar Salberg wartet auf mich“, erwiderte Joshua.
„Herr Benning?“
Joshua nickte und hielt ihm in weiser Voraussicht seinen Personalausweis vor die Nase.
„Gehen Sie durch. Sie können den Tatort nicht verfe hlen.“
Im Bahnhof fielen ihm die rot-weißen Absperrbänder auf. Zwei Polizisten standen zusammen und unterhielten sich mit einem Passanten, der kreidebleich an einer Wand lehnte. Joshuas Herz begann, wild gegen seine Brust zu schlagen. Als er das Blut sah, verharrte er, sein Inneres weigerte sich weiterzugehen. Wie in dem Traum schienen seine Beine ihm nicht zu gehorchen. Aber das mussten sie auch nicht …
Der Geist der ermordeten Frau stand vor ihm. Wut und Angst strömten Joshua entgegen und er konnte nicht a nders, als auf all das Blut zu starren, das sich auf ihrer Kleidung ausgebreitet hatte. Ihre Kehle war aufgeschlitzt, trotzdem sah sie ihn mit lebendigen blauen Augen an. Der Bahnhof schien im Nebel zu verschwimmen. Joshua realisierte nur noch den Geist. Im Bruchteil einer Sekunde
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