Oliver - Peace of Mind
Dunkelbraun: Möbel, Teppiche und
vor allem die überall halb zugezogenen Übergardinen. Die restlichen Gardinen
waren gelb vom Nikotin. Die Mutter war sehr dick und saß auf einem
Seniorensessel mit ausgefahrenem Fußteil vor dem Fernseher. Matthias lotste uns
direkt in sein Zimmer. Schüchtern setzten Sandy und ich uns auf das braune
Cordsofa. Oliver und Michael, der eigentlich ein Freund von Olivers Bruder Dave
war, den ich aber noch nie gesehen hatte, standen unschlüssig rum. Oliver
drückte seine Zigarette zu den anderen Kippen im Aschenbecher und sagte: „Komm‘
Micha! Wir gehen hoch zu mir.“
„Oh, nein! Was soll das denn werden?“, dachte ich ernüchtert. „Ich bin
doch nur wegen ihm in diese Bruchbude mitgekommen.“ Hilfe suchend sah ich Sandy
an. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. Nach ein paar weiteren Zigaretten
sagte auch Sandy, dass sie los müsse. „Ich bring‘ Dich noch zur Bahn“, rief ich
erfreut und schon war ich aufgesprungen. Matthias tat es mir nach und
bestimmte, dass er auch mitkäme. Ich wurde ihn also nicht los. Mist!
Auf dem Rückweg zeigte er sich von seiner besten Seite. Eigentlich war er
ganz nett, wenn man nur nicht so genau auf seine Zähne achtete. Er habe Angst
zum Zahnarzt zu gehen und außerdem hätten alle in seiner Familie anfällige
Zähne. Ich ging nur deshalb wieder zu ihm rein, weil ich so im gleichen Haus
wie dieser Oliver sein konnte. Ich wollte Matthias unauffällig aushorchen, denn
er schien ihn ja zu kennen.
Er setzte sich ganz dicht neben mich auf dem nachgiebigen Cordsofa. Ich
rutschte unweigerlich gegen ihn. Ich fühlte mich sehr unwohl, wusste aber
nicht, wie ich ihm verständlich machen sollte, dass ich mich für seinen Freund
interessierte und er gar nicht mein Typ war. Ich durfte ihn doch nicht
verletzen. Er war doch nett zu mir. So jedenfalls hatte Papa mir das
beigebracht.
Dennoch fühlte es sich falsch an, und als ich mich schließlich dazu
durchrang, Matthias die Wahrheit zu sagen, da lachte er nur und sagte: „Ach,
Olli! Der versucht doch, jede ins Bett zu kriegen. Außerdem hat er schon eine
Freundin. Der ist doch ein totaler Spinner.“
Das tat so weh, dass ich nicht auf die Idee kam, seine Worte zu
hinterfragen. Oliver hatte gar nicht versucht, mich rumzukriegen. Er hatte mich
einfach stehen gelassen. Mit einem Mädchen hatte ich ihn auch nicht gesehen, und
ich stand oft an meinem neuen Fenster. Matthias bemerkte, dass ich am Boden
zerstört war, und nutzte den Moment: Er legte verständnisvoll den Arm um mich,
drückte mich in die Kissen und küsste mich.
April 2012
Ich musste mir freinehmen heute. Ich habe die ganze Nacht geweint. Immer,
wenn ich versuche, Bettys Worte zu begreifen, krampft sich mein Herz zusammen
und mein Verstand schreit: „Nein!!!“ Und dann kommen die Tränen und die Trauer
und dann beginnt alles wieder von vorn.
Mit dicken Augen tappe ich in aller Herrgottsfrühe in den Keller und
durchwühle alles, bis ich meine zwei Tagebücher in Händen halte. Ich drücke sie
an mich und weine, bis der Schmerz mich in die Knie zwingt.
Ich sitze auf dem Betonboden, ein Fahrradpedal sticht mir in den Rücken.
Ich fühle es nicht. Alles, was ich fühle, ist ein großer roter Ball aus Schmerz
in meinem Bauch.
Als mir endlich klar wird, wo ich mich befinde, rapple ich mich hoch.
Etwas streift ganz zart mein nacktes Bein. Als ich nach unten sehe, liegt ein
Foto vor mir. Braune Augen und ein verschmitztes Grinsen. Ich kann nicht mehr.
Ich presse das Bild an meine Brust. Mir ist, als würde es wärmen. Ich
halte mir die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen im Treppenhaus.
Ich fahre den Computer hoch, scanne das alte Foto ein und bestelle sofort fünf
vergrößerte Abzüge. Ich war ganz sicher, kein einziges Bild mehr zu haben von
Olli. Ein späterer Freund - weil eifersüchtig - hatte alle zerrissen. Aber dieses
klebte in meinem Tagebuch. Jener Freund hatte nur die Fotoalben verwüstet. Ich
danke Gott für dieses Foto. Diese braunen Augen sind die einzigen, die mich
jetzt trösten können. Und das Wundervollste ist: Diese Augen lachen tatsächlich
mich an, denn ich selbst habe dieses Foto einst gemacht.
Nach dem Frühstück geht es mir besser. Das Foto hat mir zugesehen. Betty
hat angerufen und gefragt, ob es geht. Ich werde sie besuchen. Sie habe ich
zwölf Jahre nicht gesehen. Ich werde sie sicher erkennen. Ich google noch
schnell die Adresse, die sie mir gegeben hat, dann fahre
Weitere Kostenlose Bücher