Oliver - Peace of Mind
besuchte. Es
war ok für mich, denn wir hatten uns schon entfernt und ich war schon mit
meinen eigenen Sorgen und dem Gedanken, auszuwandern beschäftigt gewesen.
Ich sehe beide in einem Gartenhaus. Ich sehe ihn mit einem großen Hund.
„Olli kam mit Tieren viel besser klar, als mit Menschen“, bemerkte Betty, und
mir fiel ein, wie sehr er immer seine Perserkatze Schnee geliebt hatte. Auf den
älteren Fotos sieht er verändert aus. Er trägt sein Haar sehr kurz und er hat
Narben im Gesicht. Sie sind kaum zu erkennen und dennoch haben sie sein Gesicht
verändert. Vor allem den Ausdruck. Es liegt an dem Unfall. Dem Unfall mit der
Crossmaschine, als er sechzehn war.
Die letzten Fotos von ihm – eins davon hängt postergroß über dem Sofa – ich
würde ihn nicht mehr darauf erkennen. Die Augen sind alles, was mich an ihn
erinnert.
Träume
Ich gehe wieder arbeiten. Das lenkt mich ab. Da habe ich keine Zeit, um
nachzudenken. Auf dem Weg nach Hause fahre ich am Einkaufszentrum vorbei und kaufe
mir ein Fotoalbum. Die Fotos aus Bettys Album habe ich noch am selben Abend
eingescannt und online bestellt. Mit dem neuen Album in der Tüte gehe ich sie
abholen. Zur Feier des Tages bestelle ich mir eine Pizza – China Town – und
mache mich gleich daran, die Fotos einzusortieren und zu beschriften. Erst als
ich fertig bin, kann ich mich entspannen.
Diese Bilder wird mir niemand mehr zerreißen.
Es fühlt sich gut an: als wäre ein Stück meines Olivers wieder bei mir.
Niemals hätte ich gedacht, dass mir diese Spaßbilder einmal so viel bedeuten
würden. Achtundzwanzig Jahre, das war eine unvorstellbar lange Zeit für uns.
Das war fast doppelt so lange, wie wir auf der Welt waren. Mit fünfzehn lebte
man noch im Hier und Jetzt.
Erschöpft und zufrieden gehe ich Wasser für ein Bad einlassen. Wir haben
so oft zusammen gebadet. Alles schien so selbstverständlich. Dabei war es das
nicht. Gar nicht!
Ich stelle mir ein Glas Wasser ans Bett und lege mir Buch und Album
bereit. Doch schon nach wenigen Seiten schlafe ich ein.
Es ist kurz nach Mitternacht, als ich aus dem Schaf hochfahre. Ich kann
nicht gleich orten, ob mich mein eigenes Zusammenschrecken oder das eindeutige
Gefühl, jemand habe meinen Fuß berührt, geweckt hat. Starr vor Angst sitze ich
in der Dunkelheit. Ich brauche ein paar Minuten, bis ich mich soweit entspannt
habe, dass ich nach dem Lichtschalter tasten kann.
Hatte ich einen Albtraum? Ich kann mich an nichts erinnern. Nur, dass
plötzlich etwas Kühles zart meinen Fuß gestreift hat. Ich bin mir ganz sicher,
das nicht geträumt zu haben. Ich stehe auf, gehe in die Küche und gieße mir etwas
zu Trinken ein. Das ist ja gar nicht möglich, denke ich. Natürlich habe ich
geträumt. Ich habe mich nur wiedermal nicht an den Traum erinnern können.
Als ich mich wieder hinlege, habe ich noch immer ein leises Angstgefühl,
schlafe aber wieder ein.
An das, was ich nun träume, kann ich mich allerdings ganz genau erinnern
am nächsten Morgen. Ich träume von einem Ringbuch, DIN A4, kariert. Auf einmal
liegt es aufgeschlagen vor mir und ich lese die dicken schwarzen Buchstaben
darin: DAS BIN ICH GEWESEN!
Es macht mir keine Angst. Im Gegenteil, ich bin beruhigt und wache nicht
mal auf.
Juni 1983
Ich war nun schon seit fast zwei Monaten die Freundin von Matthias. Es
war ein Albtraum. Er arbeitete nicht und hing deshalb wie eine Klette an mir. Ständig
war er da. Ich ekelte mich vor ihm, vor seinen Augen, seinem Körper, seinen
Zähnen. Ich ertrug täglich seine körperlichen Übergriffe. Er war zufrieden. Dass
ich bei jeder Berührung erstarrte, merkte er nicht.
Geholfen hatte mir diese menschenunwürdige Situation, in die ich mich
selbst gebracht hatte, kein bisschen.
Oliver sah ich höchstens drei Mal in dieser Zeit. Sein verächtlicher
Blick, wenn er den stolzen Matthias mit mir ins Haus gehen sah, schmerzte mehr
als alles, was ich noch in dieser Zeit ertrug.
Offenbar waren sie nur Nachbarn, nicht aber Freunde. Oliver ging in seine
Wohnung und dort blieb er. Erst abends, wenn ich zuhause war und vergeblich
versucht hatte, den Dreck von meinem Körper zu waschen und im Nachthemd hinter
der Gardine stand, sah ich ihn manchmal an seinem offenen Fenster. Mit einer
Freundin sah ich ihn nicht. Ich brauchte ganze sechs Monate, um Matthias aus
meinem Leben zu verbannen. Schwer, wo er doch gegenüber wohnte und ich sein
einziges Spielzeug war.
Danach wollte ich
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