Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
Vom Netzwerk:
mit dem Gepäck vorausfahren. Sie können ja mit uns nachkommen. Aber setzen Sie sich jetzt endlich einmal eine angemessene Kopfbedeckung an Stelle Ihrer Zipfelmütze auf; wir werden sonst für Verrückte gehalten.«
    Mit Schrecken erinnerte sich Mr. Giles seines höchst ungebührlichen Aufzuges, schob die Nachtmütze in die Tasche, setzte sich einen Hut auf und hieß den Postillon weiterfahren, während er, Mr. Maylie und Oliver zu Fuß nachkommen wollten.
    Oliver blickte den jungen Herrn von Zeit zu Zeit neugierig und von der Seite an. Mr. Maylie war ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt und mittelgroß. Offenheit lag in seinem wohlgeformten Gesicht, und sein Benehmen war das eines wohlerzogenen vornehmen jungen Mannes. Trotz des Altersunterschiedes sah er der alten Dame, seiner Mutter, so sprechend ähnlich, daß ihn Oliver sogleich, auch wenn er nichts Näheres gewußt hätte, als ihren Sohn erkannt haben würde.
    Mrs. Maylie erwartete ihn bereits mit größter Sehnsucht und Ungeduld, und das Wiedersehn zwischen Mutter und Sohn war ergreifend.
    »Warum hast du mir nicht schon früher geschrieben, Mama?« klagte Harry.
    »Ich habe es wohl getan«, erwiderte Mrs. Maylie, »ich hatte aber beschlossen, den Brief nicht eher abzuschicken, bis Doktor Losbernes ärztliches Gutachten feststünde. Wenn das Schlimmste eingetreten wäre, Harry, hättest du das Schreckliche früh genug erfahren.«
    »Mein Glück wäre dann für immer dahingewesen«, versetzte der junge Mann. »Du weißt es, Mutter, – du mußt es wissen.«
    »Ich weiß, daß Rose die höchste Liebe verdient, die das Herz eines Mannes bieten kann«, sagte Mrs. Maylie, »und wenn mir das Gefühl nicht sagte und ich außerdem nicht wüßte, daß der Umschwung der Gefühle dessen, den sie liebt, sie bis zum Tode betrüben müßte, so würde ich es nicht so schwer finden, meine Aufgabe zu erfüllen, und würde innerlich nicht so viel Kämpfe zu bestehen gehabt haben, um zu tun, was ich für meine Pflicht halte.«
    »Meinst du noch immer, ich sei ein Knabe und kennte mein eigenes Herz nicht?« rief Harry. »Glaubst du, der Zug meiner Seele sei mir noch immer unklar?«
    »Ich glaube, lieber Sohn«, erwiderte Mrs. Maylie und legte ihm die Hand auf die Schulter, »daß die Jugend sehr viel gute Regungen hat, die aber nicht andauern, und daß darunter oft welche sind, die, wenn sie einmal befriedigt sind, sich rasch verflüchtigen. Vor allen Dingen glaube ich«, sagte die alte Dame und blickte ihrem Sohn fest in die Augen, »daß, wenn ein feuriger, ehrgeiziger, schwärmerischer Mann eine Frau heiratet, deren Name rein ist –, daß ein Mann, gleichviel wie edel und gut sein Charakter ist, immerhin eines Tages eine Verbindung, die er in der Blütezeit seiner Jahre geschlossen hat, bereuen könnte. Und sie – würde dann tiefen Schmerz empfinden.«
    »Mutter«, widersprach der junge Mann ungeduldig, »wer so handelt, ist eine selbstsüchtige Bestie und nicht wert, den Namen Mann zu tragen, noch weniger ein Weib an seiner Seite zu sehen, wie du es schilderst.«
    »So denkst du jetzt, Harry.«
    »Und so wird es immer sein«, unterbrach der junge Mann. »An Rose hängt mein Herz so innig, wie nur je daseines Mannes an dem eines Weibes hängen konnte. Das Leben hat keine Hoffnung und kein Ziel für mich ohne sie. Wenn du dem widerstrebst, so nimmst du mir Frieden und Glück und machst mich unstet. Ich bitte dich, Mutter, denke besser von mir.«
    »Harry«, sagte Mrs. Maylie, »eben weil ich warme und empfindende Herzen so sehr achte und hochschätze, möchte ich ihnen künftige Wunden ersparen. Aber wir haben jetzt über dieses Thema mehr als genug geredet.«
    »Überlasse doch alles Weitere Rose«, fiel Harry ihr ins Wort. »Ich weiß, du wirst mir sicher kein Hindernis in den Weg legen?«
    »Das nicht«, versetzte Mrs. Maylie. »Aber ich wünsche, daß du erst überlegst.«
    »Das habe ich längst«, lautete die ungeduldige Antwort. »Ich habe es, Mutter, Jahre um Jahre, und meine Empfindungen sind unverändert geblieben, seit ich denken kann. Nein, ehe ich aus diesem Hause den Fuß setze, soll Rose mich anhören.«
    »Recht so«, lobte Mrs. Maylie.
    »Das läßt mich vermuten, daß du glaubst, sie werde mich abweisen, Mutter?« forschte der junge Mann.
    »Nein, sie wird dich – und nicht mit Kälte anhören«, sagte die alte Dame, »weit entfernt davon.«
    »Was also dann?« drängte der junge Mann. »Liebt sie einen andern?«
    »Nein, gewiß nicht. Es kann nicht sein,

Weitere Kostenlose Bücher