Oliver Twist
so voll Eile, nach Hause zu kommen, daß ich nicht gesehen habe, wie Sie mir entgegenkamen.«
»Hölle und Teufel«, knirschte der Mann und wandte keinen Blick von Oliver, »zu Staub zerstampfen könnte man den Kerl und immer wieder aus einem steinernen Sarg würde der Hund auferstehen und sich mir in den Weg stellen.«
»Es tut mir wirklich leid«, stammelte Oliver, ganz verwirrt durch den haßerfüllten Blick des Mannes. »Ich habe Ihnen doch hoffentlich nicht wehe getan?«
»Verfaulen sollst du, verdammte Kröte«, stieß der Mann zwischen den Zähnen hervor. »Hätte ich nur damals das Wort gesagt, jetzt wäre ich frei von dir. Die Pest über dich, du Kobold. Was treibst du dich hier herum!«
Sinnlos vor Wut ballte der Mann die Faust und holte zu einem Schlag nach Oliver aus. Doch ehe es noch dazu kam, stürzte er auf den Boden, wand sich in Krämpfen, und weißer Schaum trat ihm vor den Mund.
Einen Moment lang starrte Oliver entsetzt auf den Wahnsinnigen, der sich am Boden in Krämpfen wand, – denn für einen Irrsinnigen hielt er ihn, – dann stürzte er ins Haus hinein, um nach Hilfe zu rufen. Dann aber lief er, so rasch er konnte, querfeldein, um die verlorene Zeit wieder hereinzubringen. Aber das seltsame Benehmen des Menschen ging ihm nicht aus dem Kopf und ließ das Gefühl tiefer Furcht in ihm zurück.
Wieder in dem Landhause angelangt, verscheuchte er seine Gedanken, denn jetzt galt es, sich selbst zu vergessen und seine Pflicht zu tun.
Bereits gegen Mitternacht lag Miss Rose in heftigen Delirien. Der Arzt des Ortes wich keine Sekunde von ihrem Bett und hatte schon nach dem ersten Blick, den er auf die Kranke geworfen, Mrs. Maylie beiseite genommen und ihr gesagt, die Krankheit der jungen Dame sei so beunruhigender Art, daß es beinahe ein Wunder bedeute, wenn sie wieder gesund werden sollte.
Oft und oft in dieser Nacht sprang Oliver aus seinem Bett und schlich auf den Zehen zum Krankenzimmer, um an der Türe zu horchen. Er zitterte vor Angst und Entsetzen, und kalte Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn,wenn er einen Fußtritt hörte, der ihn glauben machte, das Ärgste sei bereits eingetreten. Stundenlang lag er auf den Knien in inbrünstigem Gebet und leidenschaftlichem Flehen um das Leben und die Gesundheit des zarten Geschöpfes, das jetzt am Rande des Abgrundes dahinwandelte.
Ein schreckliches Hangen und Bangen! Angstbilder scheuchten ihm den Schlaf – eine ewige Marter und Pein.
Der Morgen kam, und Totenstille herrschte in dem kleinen Landhaus. Die Leute sprachen im Flüsterton zusammen. Ängstliche Gesichter wurden von Zeit zu Zeit am Torweg sichtbar, und Frauen und Kinder, denen Miss Rose in den Tagen ihrer Gesundheit so manches Gute getan, schlichen sich weg, Tränen in den Augen. Den ganzen Tag und noch lange in die Stunden der Finsternis hinein ging Oliver im Garten auf und ab und mußte alle Augenblicke hinaufschauen zu dem Krankenzimmer und schauderte zusammen beim Anblick des verdunkelten Fensters, das aussah, als habe der Tod bereits dahinter seinen Einzug gehalten.
Spät in der Nacht kam Doktor Losberne an.
»Eine schlimme Sache!« sagte er mit weggewendetem Blick. – »So jung, so sehr geliebt und so wenig Hoffnung!«
Ein andrer Morgen. Die Sonne schien hell und klar, als gäb’s kein Elend und keine Sorgen auf Erden, und drinnen im Zimmer rang ein schönes jugendliches Geschöpf mit dem Tode. Oliver schlich sich auf den alten Friedhof und setzte sich auf einen der grünen Hügel und weinte und betete um Miss Rose. Der Trauerklang einer Kirchenglocke schlug hinein in seine jugendlichen Gedanken. Man läutete zu einem Begräbnis. Eine Schar Leidtragender trat zum Friedhofstor herein, weiße Atlasschleifen um die Arme gebunden, denn ein junges Mädchen wurde bestattet. Entblößten Hauptes standen alle am Grabe, und eine weinendeMutter darunter. Aber die Sonne schien hell und freundlich, und unbeirrt sangen die Vögel weiter. Als Oliver nach Hause kam, saß Mrs. Maylie unbeweglich in dem kleinen Wohnzimmer. Das Herz stand ihm still, als er sie ansah. Sie war nicht einen Augenblick vom Bette ihrer Nichte gewichen, und er zitterte bei dem Gedanken, es müsse eine schlimme Wendung vor sich gegangen sein, da sie jetzt nicht mehr dort saß. Er vernahm, daß Rose in einen tiefen Schlaf gesunken sei, der ihr entweder Genesung oder Tod bringen würde. Stundenlang blieben sie beieinander sitzen: die alte Frau, und der Knabe, ohne ein Wort zu sprechen. Unangerührt wurde das
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