Oliver Twist
gegriffen, in eine langsame, ungewohnt feierliche Melodie.
»Rose! Liebe Rose!« rief die alte Dame erstaunt.
Rose gab keine Antwort und brach plötzlich in Schluchzen aus.
»Du bist doch nicht krank, mein Kind?« fragte Mrs. Maylie besorgt.
»Nein, nein, durchaus nicht«, versetzte Rose und schauderte zusammen wie unter großer Kälte. »Es wird mir gleich wieder besser sein.«
Sie wollte weiterspielen, aber ihre Finger sanken kraftlos nieder. Sie bedeckte mit den Händen das Gesicht und verfiel in lautes Schluchzen.
»Mein Kind«, jammerte die alte Dame und schlug die Arme um sie, »so habe ich dich ja noch niemals gesehen!«
»Ich möchte dich nicht beunruhigen«, klagte Rose, »aber ich kann nicht länger. Ich fürchte, Tante, ich bin sehr schwer krank.«
Sie war wirklich krank, denn als die Kerzen ins Zimmer gebracht wurden, da sahen sie, daß in der kurzen Zeit, seit sie nach Hause gekommen war, die sonst so blühende Gesichtsfarbe Roses einer tödlichen Blässe gewichen war. Eine angstvolle Nacht folgte, und als der Morgen kam, war die Befürchtung Mrs. Maylies, die sie Oliver auf dessen Fragen mitgeteilt, zur Wahrheit geworden: Rose war im ersten Stadium eines hohen Fiebers.
»Jetzt heißt es handeln ohne lange Worte und unserm Kummer nicht freien Lauf lassen«, sagte Mrs. Maylie. »Dieser Brief hier muß so rasch wie möglich zu Doktor Losberne befördert werden; er muß zum nächsten Marktflecken geschafft werden – ungefähr drei Meilen Luftlinie vonhier entfernt. Von dort soll ihn ein Eilbote sofort nach Chertsey weitertragen. Die Leute im Gasthaus des Marktfleckens werden gerne alles übernehmen. Bitte, sorge dafür, daß alles pünktlich geschieht. Auf dich kann ich mich, das weiß ich, verlassen.«
Oliver konnte vor Unruhe und Ergriffenheit kein Wort hervorbringen, aber der Eifer, alles zu tun, was in seiner Macht stand, war auf seinem Gesicht geschrieben.
»Hier hätte ich noch einen andern Brief«, sagte Mrs. Maylie und überlegte. »Nur weiß ich nicht: soll ich ihn absenden, oder soll ich warten. Ich möchte erst wissen, wie es mit Rose steht, und nicht jemand unnötig beunruhigen, solange das Schlimmste noch nicht zu befürchten ist.«
»Ist er auch in Chertsey abzugeben, Madame?« fragte Oliver voll Eifer, zu helfen, wo er nur könne, und streckte zitternd die Hand nach dem Briefe aus.
»Nein«, versetzte die alte Dame, gab ihm aber mechanisch das Schreiben.
Oliver warf einen Blick auf die Adresse und las: »Mr. Harry Maylie« und darunter die nähere Bezeichnung eines vornehmen Hauses in der Gegend.
»Soll er besorgt werden, Madame?« fragte Oliver ungeduldig.
»Nein, noch nicht«, murmelte Mrs. Maylie. »Ich will lieber bis morgen warten.«
Mit diesen Worten gab sie Oliver ihre Börse, und er rannte, so rasch er konnte, davon.
Es ging im Flug über die Felder; bald war Oliver unsichtbar im hohen Korn, bald trat er wieder auf offnes Feld hinaus, wo die Ackersleute emsig die Fluren bestellten. Nicht ein einziges Mal machte er halt und langte endlich staubbedeckt auf dem kleinen Marktplatz des Fleckens an.
Was er zu suchen hatte, war ein großes Gebäude mitgrüngestrichenem Balkenwerk und einem Schild davor mit der Aufschrift: Zum König Georg.
Oliver sprach einen Postillon an, der im Torweg lag und schlief. Dieser wies ihn an den Hausknecht und dieser an den Wirt. Der Wirt war ein riesiger Mann mit blauem Halstuch, weißem Hut, Lederhosen und Stulpenstiefeln. Er lehnte gerade an der Stalltüre und stocherte sich mit einem silbernen Zahnstocher in den Zähnen. Bedächtig begab er sich hierauf in die Schenkstube und rechnete eine Ewigkeit herum, was die Besorgung des Briefes wohl kosten möchte. Dann mußte ein Gaul gesattelt werden und ein Mann sich anziehen und zurechtmachen, und darüber verstrichen abermals mehrere Minuten. Oliver konnte es vor Ungeduld und Unruhe kaum aushalten. Am liebsten wäre er selbst aufs Pferd gesprungen und in gestrecktem Galopp zur nächsten Station gejagt. Endlich aber war alles fertig, und der Postbote gab dem Roß die Sporen und sprengte über das holprige Pflaster des Marktfleckens, und wenige Minuten später konnte man ihn auf der Landstraße dahinjagen sehen.
Erleichtert bog Oliver aus dem Torweg heraus, da stolperte er gegen einen Mann, der im selben Augenblick das Gasthaus verlassen wollte.
»Donner«, rief der Mensch, fuhr zurück und starrte Oliver an. »Teufel, wer ist das!«
»Entschuldigen Sie, Sir«, stotterte Oliver, »ich war
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