Oliver Twist
Minuten gesellte sich auch Doktor Losberne, der eben von einem Spaziergang heimkam, zu ihnen und fragte sie laut, was denn geschehen sei.
Sie hielten ein wenig an, um Atem zu schöpfen, und dann bog Harry in den Wiesengrund ein, den ihm Oliver bezeichnet hatte. Sorgfältig durchsuchte er den Graben und die Hecke, und dadurch gewannen die übrigen Zeit, zu ihm zu kommen und Doktor Losberne die Ursache der Jagd mitzuteilen.
Ihr Suchen war vergeblich, nicht einmal frische Fußspuren entdeckten sie. Endlich standen sie auf einem kleinen Hügel, von dem aus sie alle Felder, Wiesen und Äcker übersehen konnten und linker Hand das kleine Dorf. Doch die Verfolgten hätten, um es zu erreichen, eine viel längere Zeit brauchen müssen, als ihnen gegeben war.
»Du mußt geträumt haben«, sagte Harry, als sie nichts erblickten.
»Nein, Sir, wirklich nicht«, erwiderte Oliver schaudernd. »Ich habe ihn deutlich gesehen; ich habe beide so deutlich gesehen, wie ich Sie jetzt vor mir sehe.«
»Wer war denn der andre?« forschten Harry und Losberne zugleich.
»Derselbe Mann, von dem ich Ihnen sagte, daß ich ihn kürzlich im Hausgang des Gasthofes getroffen habe«, antwortete Oliver. »Wir starrten einander in die Augen, und ich kann beschwören, daß er es war.«
»Weißt du gewiß, daß sie diesen Weg genommen haben?«
»So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Feld dort standen«,versicherte Oliver und wies nach der Hecke zwischen Garten und Wiesengrund. »Da sah ich sie, sah den großen Mann hinüberspringen und auch den Juden und sich einige Schritte weiter rechts durch die Lücke drängen.«
Die beiden Herren blickten Oliver während seiner Erzählung unverwandt an und dann einander – die eifrigen Mienen des Knaben sagten ihnen deutlich, daß er die Wahrheit sprach. Indessen war noch immer keine Spur von den beiden Flüchtlingen zu entdecken. Das Gras war hoch, aber nur dort niedergetreten, wo die Verfolger gegangen waren; auch in der feuchten Tonerde der Gräben zeigte sich nicht die geringste Spur frischer Fußstapfen.
»Das ist höchst auffallend«, meinte Mr. Maylie.
»Höchst auffallend«, wiederholte Losberne. »Selbst der Firma Blathers & Duff würde der Verstand dabei stillstehen.«
Sie forschten weiter und suchten alles ab, bis der Hereinbruch der Nacht ihnen ein Ziel setzte. Aber selbst dann gaben sie ihre Bemühungen nur widerstrebend auf. Giles wurde nach verschiedenen Wirtshäusern im Dorf geschickt, nachdem er sich zuvor bei Oliver über Erscheinung und Kleidung der beiden Fremden so gut wie möglich orientiert hatte. Jedenfalls sah der Jude merkwürdig genug aus, um aufzufallen, angenommen, daß er eingekehrt war oder sonstwie das Dorf berührt hatte. Aber auch Giles kam ohne Nachricht wieder heim und war nicht imstande, das Geheimnis aufzuhellen.
Eine neue Suche am nächsten Tag ergab kein besseres Resultat. Auch der übernächste Tag, an dem Oliver mit Mr. Maylie den Marktflecken selber aufsuchte; doch die Hoffnung, dort etwas von den beiden Männern zu hören oder zu sehen, war fruchtlos. In den nächsten Tagen gerietder Vorfall nach und nach in Vergessenheit, wie die meisten Dinge vergessen werden, wenn das Interesse für sie in sich selbst erstirbt.
Mittlerweile war Rose genesen. Sie konnte wieder ausgehen, und Freude und Fröhlichkeit herrschte in der Familie. Trotzdem lag über allen eine sonst nicht übliche leise Zurückhaltung, die Oliver nicht entging. Mrs. Maylie und ihr Sohn entfernten sich oft und lange, und zuweilen glänzten Tränen in Roses Augen. Als Mr. Losberne den Tag seiner Abreise festgesetzt hatte, mehrten sich diese Anzeichen zusehends – offenbar war etwas im Gang, das störend in den Seelenfrieden der jungen Dame und der beiden andern eingriff.
Endlich eines Morgens, als Rose gerade im Wohnzimmer allein war, trat Harry Maylie herein und bat sie mit einigem Stocken um die Erlaubnis, ein paar Worte mit ihr unter vier Augen reden zu dürfen.
»Es werden nur wenige, sehr wenige sein, Rose«, sagte er und setzte sich zu ihr. »Was ich dir zu sagen habe, weißt du wohl schon lange. Die glühendsten Hoffnungen meines Herzens werden dir nicht unbekannt sein, wenn du sie auch noch nicht von meinen Lippen vernommen hast.«
Rose war bleich geworden, schon als sie ihn eintreten sah. Das mochte aber vielleicht von ihrer erst überstandenen Krankheit herrühren. Jetzt bückte sie sich rasch über einen Blumenstock, der in ihrer Nähe stand, und wartete stumm.
»Ich –
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