Oliver Twist
soll ich sagen?« fragte er, mit einem Fuß bereits auf der Treppe.
»Daß eine junge Frauensperson dringend bitten läßt, mit Miß Maylie allein zu sprechen«, sagte Nancy. »Wenn die Dame nur mein erstes Wort hören will, wird sie sofort wissen, ob sie mich weiter anhören soll oder nicht, und ob ich eine Betrügerin bin.«
»Das muß man sagen«, brummte der Bediente, »den Mund nimmt sie voll genug.«
»Melden Sie der Dame, was ich Ihnen gesagt habe«, erwiderte Nancy entschieden. »Ich werde hier auf Antwort warten.«
Der Bediente ging hinauf, und Nancy blieb bleich und außer Atem stehen und hörte mit zuckenden Lippen die Spottreden an, an denen es das keusche Sylphiden-Quartett nicht fehlen ließ. Dann kam die Nachricht, sie solle die Treppe hinaufgehen.
»Ein anständiger Mensch kommt zu nichts in dieser Welt«, murrte das Dienstmädchen Nummer eins ihr nach.
»Na ja, Messing ist halt mehr wert als Gold«, sagte Nummer zwei spitzig, und die dritte beschränkte sich darauf, ihrer Neugierde, aus welchem Stoff wohl feine Damen sein müßten, Ausdruck zu geben. Und Nummer vier prägte das Schlagwort: »Pfui Teufel, a’ Schand’ is!«, worauf die Unterhaltung geschlossen wurde.
Ohne darauf zu achten, denn sie hatte wichtigere Dinge auf dem Herzen, folgte Nancy, zitternd am ganzen Leib, dem Bedienten in ein kleines Vorzimmer, das durch eine Hängelampe beleuchtet war. Dann blieb sie allein und wartete.
VIERZIGSTES KAPITEL
Eine seltsame Unterredung
Ihr ganzes Leben hatte Nancy auf der Gasse und in den abscheulichsten Höhlen Londons zugebracht. Dennoch war nicht alle Weiblichkeit in ihr erstorben, und als sie jetzt einen leichten, sich nähernden Schritt hörte, malte sie sich unwillkürlich die tiefe Kluft aus, die im nächsten Augenblick, wenn die junge Dame eingetreten sein würde, zwischen dieser und ihr aufklaffen müßte. Sie fühlte sich tief niedergedrückt im Bewußtsein ihrer Schmach und schaudertedavor zurück, die Gegenwart der Dame, die sie zu sprechen gewünscht, zu ertragen.
Doch allmählich bäumte sich gegen ihre Gefühle ein gewisser Stolz auf. Von Kindheit an eine Genossin von Dieben und Einbrechern aller Art, zu den tiefst gesunkenen Bewohnerinnen gemeinster Schlupfwinkel zählend, die Gefährtin von Sträflingen und solchen, die dem Galgen bereits verfallen waren, empfand sie dennoch zu viel Stolz, um auch nur einen leisen Schimmer des weiblichen Gefühls zu verraten, das ihr als Schwäche erschien, obwohl es vielleicht das einzige Band war zwischen ihr und den Glücklicheren der Erde. Sie blickte auf – nur einen Moment, aber er genügte ihr, um zu sehen, daß die Dame, die jetzt eintrat, ein schönes zartes Mädchen war. Dann schlug sie die Augen wieder zu Boden und warf den Kopf trotzig zurück. »Es war recht schwer, Fräulein«, begann sie, »bis es mir endlich gelungen ist, bei Ihnen vorzukommen. Wenn ich empfindlich gewesen und fortgegangen wär’, wie’s wohl so manch andre getan hätt’, wär’s Ihr Schaden gewesen.«
»Es tut mir sehr leid, wenn sich die Dienerschaft unhöflich gegen Sie benommen haben sollte«, versetzte Miss Rose; »denken Sie nicht mehr daran und sagen Sie mir, was Sie zu mir führt.«
Der freundliche Ton, das ungezwungene Wesen und die klare Stimme Miss Roses, aus der so gar keine Spur von Hochmut herauszuhören war, überraschten Nancy derart, daß sie in Tränen ausbrach.
»Sie liebes gütiges Fräulein«, rief sie und schlug die Hände leidenschaftlich vors Gesicht, »gäbe es mehr solche wie Sie auf Erden, so würde es weniger solcher Geschöpfe geben, wie ich es bin.«
»Setzen Sie sich doch«, sagte Miss Rose ernst. »Wenn Sie arm oder sonst unglücklich sind, wird es mir eine aufrichtigeFreude sein, Ihnen helfen zu können. Seien Sie überzeugt davon und setzen Sie sich, bitte.«
»Nein, bitte, lassen Sie mich stehen, liebes Fräulein«, flehte Nancy, noch immer weinend. »Und dann drängt die Zeit so. Ist die Türe dort – die Türe dort verschlossen?«
»Ja«, sagte Rose und trat ängstlich einen Schritt zurück, um für alle Fälle, wenn sie um Hilfe rufen würde, Beistand zu haben. »Warum fragen Sie?«
»Weil ich im Begriffe stehe, Ihnen mein Leben und das anderer in die Hand zu legen . . . Ich bin jene Person, die den kleinen Oliver zu Fagin zurückgeschleppt hat an jenem Abend, als er das Haus in Pentonville verließ . . .«
»Sie?!«
»Ja, ich, Fräulein. Ich bin das elende Geschöpf, von dem Ihnen Oliver erzählt
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