Oliver Twist
kein Mädel herum mit einem mutigeren Herzen als das ihre, – sonst hätt’ ich ihr schon vor einem Vierteljahr die Gurgel durchgeschnitten. Sie hat das Fieber – aha, ich seh’ schon.«
Das Glas bis auf den Grund leerend, stieß er ein paar Flüche aus und rief nach seiner Arznei. Eilig sprang Nancy auf und goß ihm die Medizin ein.
»So«, sagte der Einbrecher, »jetzt komm und setz dich neben mein Bett und mach dein gewöhnliches Gesicht, – sonst werd’ ich dir die Visage zeichnen, daß sie keiner mehr wiedererkennt.«
Nancy gehorchte.
Bald kämpfte Sikes mit dem Schlaf, dann fuhr er wieder auf und starrte umher, immer Nancys Hand festhaltend. Endlich löste sich sein Griff, und er sank zurück.
»Das Laudanum hat gewirkt«, flüsterte Nancy und stand auf. »Aber vielleicht komm’ ich doch zu spät.«
Eilig setzte sie ihren Hut auf, warf den Schal über, in immerwährender Angst, Sikes’ schwere Hand könnte sich trotz des Schlaftrunkes wieder auf ihre Schultern legen. Dann beugte sie sich sanft über das Bett, drückte dem Einbrecher einen Kuß auf die Lippen, öffnete die Türe und schloß sie geräuschlos hinter sich.
Soeben ging der Nachtwächter die finstere Gasse entlang und rief die erste Hälfte der zehnten Stunde aus.
»Hat’s schon lange halb geschlagen?« fragte Nancy ihn hastig.
»In einer Viertelstunde schlägt es zehn«, sagte der Mann und leuchtete ihr mit der Laterne ins Gesicht.
»Höchstens in einer Stunde, vielleicht dann noch nicht, kann ich dort sein«, murmelte Nancy und eilte die Straße hinunter.
Die meisten Läden in den engen Seitengassen, die sie auf ihrem Wege von Smithfield nach dem Westend passierte, waren bereits geschlossen. Die Glocken schlugen eben zehn; ihre Unruhe wuchs. So schnell sie konnte, eilte sie auf dem schmalen Trottoir daher, bald rechts, bald links an die Passantenanstoßend, dann wieder überquerte sie dicht vor den Köpfen der Pferde die überfüllten Straßen und bahnte sich rücksichtslos ihren Weg durch das Gewühl.
»Verrücktes Frauenzimmer«, brummten die Leute hinter ihr drein, wie sie so vorwärts jagte.
In dem vornehmeren Stadtviertel nahm das Gedränge ab, und sie konnte ihre Schritte noch mehr beschleunigen. Endlich erreichte sie ihr Ziel: ein schönes, vornehmes Haus in einer Straße nicht weit von Hydepark. Es schlug elf. Sie trat in die Halle. Der Portiersitz war leer. Unsicher blickte sie sich um und schritt nach der Treppe.
»Zu wem wollen Sie denn, Sie, junge Person?« rief ein wohlgekleidetes Stubenmädchen, das eine Türe öffnete, hinter ihr her.
»Ich suche eine Dame hier im Hause«, gab Nancy zur Antwort.
»So so, eine Dame«, war die höhnische Antwort. »Was für eine denn?«
»Miß Maylie.«
Das Dienstmädchen hatte nur einen Blick tugendhafter Geringschätzung und rief einen Mann herbei, damit er Nancy die entsprechende Antwort gebe. Nancy wiederholte ihm ihre Frage.
»Wen soll ich melden?« fragte der Bediente.
»Mein Name ist nicht nötig«, versetzte Nancy.
»Worum handelt es sich?«
»Auch das ist gleichgültig. Ich muß die Dame sprechen.«
»Schauen Sie, daß Sie hinauskommen«, sagte der Bediente und deutete auf das Haustor. »So was gibt’s hier nicht. Marsch, hinaus!«
»Mit Gewalt bringt Ihr mich nicht hinaus«, rief Nancy heftig, »verlaßt Euch drauf. Ist denn niemand hier«, riefsie und sah sich um, »der für ein armes Mädchen eine Bestellung ausrichtet?«
Ihre Worte machten auf einen gutmütig aussehenden Koch einen guten Eindruck. Er trat hervor und legte sich ins Mittel.
»So richt’s doch aus, Joe! Das kannst du doch tun«, sagte er zu dem Bedienten.
»Möcht’ wissen, warum«, versetzte der Angeredete. »Du wirst doch nicht glauben, Miß Maylie wird mit einer solchen Person reden?«
Seine Anspielung auf Nancys zweifelhaftes Aussehen rief sofort einen Schwall tugendsamer Entrüstung bei den vier Dienstmädchen, die sich inzwischen angesammelt hatten, hervor, und mit größter Lebhaftigkeit erklärten sie, die Person sei eine Schande ihres Geschlechtes und sie bestünden darauf, daß man sie ohne Gnade und Barmherzigkeit sofort hinauswürfe.
»Tut, was ihr wollt«, sagte Nancy und wendete sich wieder zu den Männern, »aber zuerst erfüllen Sie meine Bitte. Ich bitte Sie um Gottes willen, richten Sie meine Bestellung an die Dame aus.«
Der weichherzige Koch befürwortete ihre Bitte, und schließlich übernahm der Bediente, der zuerst so unwillig gewesen war, die Besorgung.
»Was
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