Oliver Twist
der Kathedrale und durch papierverklebte Fenster in arme Bodenluken warf sie denselben Schein und erhellte auch das Zimmer, in dem das ermordete Mädchen lag. Sikes versuchte, das Licht auszusperren, aber immer wieder strebte es herein.
Er hatte sich vor Furcht nicht hinausgewagt. Hie und da hatte Nancy noch aufgestöhnt und mit den Händen gezuckt, und dann packte ihn das Entsetzen, und in sinnloser Wut schlug er immer wieder nach ihr. Er hatte eine Decke über sie geworfen, aber immer glaubte er sich von ihren toten Augen verfolgt, und das war weit entsetzlicher, als hätte sie ihn wirklich angeblickt. Dann stierten ihre Augen starr nach aufwärts, als er die Decke plötzlich wieder weggerissen. Da lag sie als Leiche – Fleisch und Blut – aber was für Fleisch und wieviel Blut!
Sikes brannte die Kerze an, entzündete ein Feuer und warf den Knüttel hinein. An einem Ende klebte Haar, das in der Glut verprasselte und, vom Luftzug gepackt, in den Schornstein hinaufgerissen wurde. Das Entsetzen schüttelte ihn, aber er hielt die Waffe fest, bis sie zerloderte und zu Asche verbrannte. Dann wusch er sich und bürstete sich die Kleider. Es waren Flecken drin, die sich nicht herauswaschen ließen. Er schnitt die Stücke heraus und verbrannte sie. Die ganze Stube war voll Blutflecken, alles, selbst die Füße des Hundes waren blutig.
Nicht ein einziges Mal hatte er dem Leichnam den Rücken zugekehrt, nicht einen Augenblick lang. Als er den Knüttel vernichtet und seine Kleider gesäubert hatte, schritt er rücklings der Türe zu, den Hund nach sich zerrend, damit er sich die Füße nicht beflecke und nicht frische Spuren des Mordes auf die Straße hinaustrüge. Leise schloß er die Türe und drehte den Schlüssel herum. Er schritt hinüber auf die andre Seite der Straße und sah zu den Fenstern empor, um sich zu vergewissern, daß man von draußen nichts Verdächtiges sehen konnte. Noch immer war die Gardine vorgezogen, die Nancy hatte zurückrollen wollen, um das Licht einzulassen, das sie nie wieder sehen sollte. Dicht darunter mußte ihre Leiche liegen, er wußte es genau. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie die Sonne dorthin Flecken warf.
Er blickte wieder empor. Es war ihm eine Erleichterung, sich in frischer Luft zu wissen. Er pfiff seinem Hund und ging eilends davon.
Er ging durch Islington, schritt Highgate hinauf, ohne sich darüber klar zu sein, wohin ihn sein Weg führen solle. Er strich über die Felder am Walde hin und gelangte auf die Hampsteader-Heide. Schließlich legte er sich unter eine Hecke und schlief ein.
Doch bald war er wieder auf den Beinen und irrte umher, um sich abermals an einem Grabenrand zur Ruhe niederzustrecken. Aber wieder ließ es ihm keine Ruhe, und er suchte sich einen andern Fleck, um dann von neuem und wieder von neuem querfeldein zu laufen.
Der Ort Hendon fiel ihm ein. Das Dorf lag nicht allzuweit und abgelegen. Dorthin lenkte er seine Schritte. Manchmal rannte er wie besessen, manchmal schlich er wie eine Schnecke und blieb stehen und schlug mit seinem Stock faul in die Sträucher. In Hendon angelangt, traf er Leute und jeder schien ihn, wie es ihm vorkam, argwöhnischanzusehen. Er fand nicht den Mut, sich einen Schluck zu trinken oder einen Bissen zu essen zu kaufen, trotzdem er schon seit vielen Stunden nichts über die Lippen gebracht hatte.
Meilen und Meilen wanderte er, und doch kam er wieder zurück auf den alten Fleck. Der Mittag war bereits vorbei und der Tag neigte sich zu Ende. Endlich raffte er sich auf und schlug die Richtung nach Hatfield ein.
Aufs äußerste erschöpft – auch sein Hund lahmte – schlich er sich in ein ärmliches Wirtshaus, dessen Licht er von weitem hatte brennen sehen.
Ein paar Bauern saßen um einen Krug herum. Sie rückten zusammen, um ihm Platz zu machen, aber er setzte sich in den entferntesten Winkel, aß und trank und warf zuweilen seinem Hund einen Bissen hin.
Die Unterhaltung der Gäste drehte sich um die Ackerfelder, und dann sprachen sie über den und jenen Nachbarn und andre gleichgültige Dinge.
In ihren Reden klang nichts durch, was den Mörder hätte stutzig machen können. Nachdem er seine Zeche bezahlt, setzte er sich still in eine Ecke und war beinahe eingeschlafen, als er durch einen Lärm, den ein eintretender neuer Gast verursachte, geweckt wurde.
Es war ein Mensch, halb Hausierer, halb Quacksalber, wie sie im Lande umherwandern, um Schleifsteine, Rasierriemen, Messer, Fleckseife, Arzeneien für Tiere, billige
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