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Oliver Twist

Oliver Twist

Titel: Oliver Twist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Dickens
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sah ein Gespenst vor sich. Wenn er stehenblieb, blieb das Gespenst ebenfalls stehen. Wenn er rannte, folgte es ihm. Er hätte erleichtert aufgeatmet, wenn es eine wirkliche Leiche gewesen wäre. Manchmal wollte er sich verzweifelt umdrehen, um das Gespenst mit einem Schlage von sich zu vertreiben, und wenn es ihn das Leben kosten sollte. Aber das Haar sträubte sich ihm, denn das Gespenst hatte sich dann mit ihm umgedreht und war wieder hinter ihm. Den ganzen Morgen hatte er es vor sich gesehen, aber jetzt war’s plötzlich hinter ihm; immerwährend. Er lehnte sich mit dem Rücken an eine Bank und fühlte, daß es vor ihm stand. Er sah es am kalten Nachthimmel. Er warf sich auf die Straße nieder, – damit er rücklings darauf zu liegen kam, da stand es an seinem Kopfe still, regungslos und kerzengerade, ohne sich zu rühren, ein lebendiger Grabstein, die Grabschrift mit Blut geschrieben.
    Auf einem Feld, das er überquerte, stand ein Heuschober,der ihm ein Obdach für die Nacht bot. Vor dem Eingang standen drei Pappeln, die den Raum im Schuppen verfinsterten, und der Wind heulte in ihrem Geäst stöhnend und ächzend. Sikes war nicht imstande weiterzugehen, bevor es nicht Tag geworden. Dicht an der Mauer streckte er sich im Schuppen nieder, um neue Qualen zu erleben.
    Das Phantom stand vor ihm, starr wie die, vor der er geflohen war, nur weit schrecklicher. Ihre weit aufgerissenen, ins Leere starrenden Augen – glanzlos und gläsern –, erschienen vor ihm mitten in der Finsternis. Schloß er die Lider, sogleich sah er im Geiste das Zimmer wieder mit all den wohlbekannten Gegenständen darin. Und noch lag der Leichnam dort, wo sie niedergestürzt war. Er stand auf und raste hinaus, kam wieder zurück und legte sich nieder. Kalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Da, wie aus weiter Ferne, trug der Nachtwind lautes Geschrei und Stimmengelärm zu ihm herüber. Er ermannte sich, wie immer, wenn sich greifbare Gefahr ihm gegenüberstellte – er sprang auf die Füße und stürzte ins Freie hinaus. Der ganze Himmel schien ein Feuermeer. Das Geschrei wurde lauter und lauter, und er konnte den Ruf: Feuer, Feuer! deutlich unterscheiden. Dazwischen hinein rasten die Sturmglocken und der Fall von schweren Gegenständen, und das Knistern und Prasseln von Lohe drang zu ihm herüber. Er stürzte vorwärts, geradeaus, mitten durch Gesträuch und Gestrüpp; sein Hund mit lautem scharfem Gebell vor ihm her.
    Er lief zur Brandstätte.
    Halbnackte Gestalten eilten dort hin und her, zum Teil bemüht, geängstigte Pferde aus den Ställen zu ziehen, andre trieben das Vieh auf den Hof und aus den Nebengebäuden, und überall stürzten rotglühende Balken hernieder. Mauern schwankten und fielen zusammen, prasselnde Funken aufwirbelnd, geschmolzenes Blei und anderes Metall sickerteweißglühend nieder auf die Erde. Weiber und Kinder kreischten und Männer riefen einander zu. Es war ein entsetzliches Getöse. Auch Sikes schrie mit, bis er heiser war, und warf sich hinein in das dichteste Gewühl.
    Da und dort tauchte er auf, bald an den Pumpen, bald wieder stürmte er durch den Rauch in die Flammen, immer bemüht, sich hervorzutun und mitzuarbeiten, wo der Tumult am lautesten tobte, über Ziegel und Steinbrocken hinweg. Überall, wo es auflohte, war er der Wagemutigste. Aber nicht ein Splitter ritzte ihn, sein Leben schien wie gefeit.
    Als die furchtbare Aufregung vorüber war, da kehrte ihm das entsetzliche Bewußtsein seines Verbrechens zurück. Mißtrauisch sah er sich um, denn die Männer standen in Gruppen beisammen und sprachen miteinander, und er fürchtete, der Gegenstand ihrer Unterhaltung zu sein.
    Er gab seinem Hund ein kurzes Zeichen und wollte sich wegschleichen. Er mußte an der Spritze vorüber, auf der mehrere Männer saßen. Sie riefen ihm zu, an der Stärkung, die sie zu sich nahmen, teilzunehmen. Er aß ein bißchen Brot und Fleisch und nahm einen Schluck Bier. Da hörte er wieder die Menschen, die aus London gekommen waren, über den Mord sprechen.
    »Er ist nach Birmingham, sagt man«, erzählte der eine, »aber sie werden ihn schon kriegen. Die Patrouillen sind hinter ihm her. Noch ein paar Stunden, und das ganze Land ist alarmiert.«
    Sikes lief davon und wanderte weiter, bis er fast zusammenbrach. Dann legte er sich hinter einer Hecke nieder und schlief einen langen, aber oft unterbrochenen, unruhigen Schlaf. Und wieder wanderte er weiter und weiter, bis er fast zu Boden sank. Plötzlich faßte er den

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