Oliver Twist
sie auf und taumelte die Brücke hinauf. Von Staunen erfüllt blieb Noah Claypole noch ein paar Minuten an seinem Posten, ohne sich zu rühren, dann kroch er langsam aus seinem Versteck hervor, spähte, nachdem er die oberste Stufe erreicht hatte, nach allen Richtungen aus, um sich zu vergewissern, daß er auch nicht gesehen werde, und rannte dann in das Haus des Juden, so schnell ihn seine Beine tragen wollten.
SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Verhängnisvolle Folgen
Ein paar Stunden vor Tagesanbruch, – zu jener Zeit, wo es im Herbste finsterste Nacht zu sein scheint, wo sogar die Geräusche schlummern und die Straßen schweigsam und verödet daliegen und die Schlemmer und Schwelger nach Hause getaumelt sind, um zu träumen, – da saß Fagin noch wachend in seiner Höhle, und sein Gesicht war so bleich und verzerrt, daß er mit seinen roten blutunterlaufenen Augen weniger einem Menschen als einem scheußlichen Gespenste glich.
In eine zerlumpte Decke gehüllt, kauerte er an dem erkalteten Herd und starrte in eine mit dem Erlöschen kämpfende Talgkerze, die auf dem Tische vor ihm stand. Geistesabwesend kaute er an seinen langen schwarzen Fingernägeln, wobei in dem sonst zahnlosen Mund einige Zähne sichtbar wurden, die geradeso gut einem Hund oder einer Ratte hätten gehören können.
Am Boden ausgestreckt auf einer Matratze lag Noah Claypole, fest schlafend.
Regungslos und ohne auch nur ein einziges Mal seine Stellung zu verändern, saß der Jude da und wartete, sich ganz seinen rastlos arbeitenden Gedanken überlassend, bis endlich das Geräusch von Schritten auf der Straße ihn aus seinem Grübeln erweckte.
»Endlich«, murmelte er und fuhr sich mit der Hand über die fieberheißen Lippen, »endlich.«
Als die Glocke leise ertönte, ging er hinaus und kehrte bald darauf mit einem Mann zurück, der bis ans Kinn verhüllt war und ein Bündel unterm Arm trug: es war Sikes.
»Da«, sagte der Einbrecher und warf das Bündel auf den Tisch. »Mach’s zu Geld, so gut du kannst. Mühe genughat’s gekostet: ich hätte schon vor drei Stunden hier sein sollen.«
Fagin verschloß das Bündel in einem Schrank, setzte sich wieder nieder und blickte Sikes starr an, wobei seine Lippen so heftig zuckten, daß der Verbrecher unwillkürlich ganz bestürzt wurde.
»Was gibt’s denn?« fuhr Sikes auf. »Teufel noch mal, warum sehen Sie mich so an?«
Der Jude erhob die Hand und bewegte den Zeigefinger hin und her, war aber so erregt, daß er keine Worte finden konnte.
»Himmel und Teufel«, schrie Sikes und griff nach seiner Brusttasche. »Er ist verrückt geworden. Mir scheint, er will mir an den Hals.«
»Nein, nein«, murmelte Fagin atemlos, »das ist’s nicht – Sie sind’s nicht, Bill –, mit Ihnen bin ich zufrieden.«
»So so, sind Sie das!« höhnte Sikes mit einem grimmigen Blick und schob in nicht mißzuverstehender Weise seine Pistole in die rechte Seitentasche. »Ein Glück ist’s – für einen von uns beiden. Wer der ist, darauf kommt’s hier nicht an.«
»Iach muß Ihnen was erzählen, Billeben«, fing Fagin endlich an und rückte näher zu Sikes. »Es wird Ihnen dabei so mies zumut werden, wie mir schon ist.«
»So, glauben Sie«, versetzte der Räuber trocken. »Also los. Aber schnell, gefälligst, sonst wird Nancy denken, sie hätten mich schon am Kragen.«
»Am Kragen«, wiederholte Fagin. »Glauben Sie, daß sie sich was draus machen würde?«
Sikes sah ihn betroffen an. Dann packte er den Juden mit seiner riesigen Faust und schüttelte ihn hin und her. »Raus mit der Sprache«, schrie er, »sonst schüttle ich Ihnen den Atem aus der Brust. Maul aufgemacht und gesagt, was los ist! Raus mit der Sprache.«
»Nemmen Se an, der Bursch, der dorten liegt«, fing Fagin an, – Sikes drehte sich um und warf einen Blick auf Noah Claypole; »nun?« fragte er, den Juden wieder fest ins Auge fassend. »Nemmen Se an, der Bursch dort«, fuhr Fagin fort, »hätte sich zuerscht emol die richtigen Leinte ausgesucht, um uns zu verpetzen, und sich dann mit ihnen gegeben ä Zusammenkunft auf der Stroßen, um ihnen alles zu verraten. Nemmen Se an, er hätt’ alles das getan aus freien Sticken, und ohne daß ihm das Messer am Hals gesessen wär; was glauben Sie, mißt mit ihm geschehen?«
»Was?« versetzte Sikes und stieß einen entsetzlichen Fluch aus. »Wenn ich ihn lebend in die Händ’ bekommen hätte, würd’ ich ihm den Schädel mit den Stiefelabsätzen zertreten.«
»Und was, wenn ich so was
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