Oliver Twist
getan hätt?« schrie der Jude gellend. »Ich weiß doch wahrhaftig genug, ich könnt’ so manchen an den Galgen bringen.«
»Ich weiß nicht, was ich täte«, brummte Sikes und biß die Zähne zusammen und wurde bei dem bloßen Gedanken weiß wie die Wand. »Wenn ich mit dir zusammen verhört würde und wüßte das, selbst dann im Gerichtshof schlüg ich dir vor allen Leuten das Gehirn aus dem Schädel.«
»Das täten Sie?«
»Jawohl, das tät’ ich«, sagte der Einbrecher. »Glauben Sie’s vielleicht nicht?«
»Und wenn’s Charley wär’, oder der Baldowerer, oder Betsey, oder –«
»Mir wurscht, wer’s ist oder wer’s wäre«, versetzte Sikes ungeduldig, »ich würde es ihm besorgen, wie ich’s gesagt hab’.«
Fagin faßte den Verbrecher scharf ins Auge, dann bedeutete er ihm zu schweigen, beugte sich über den schlafenden Noah Claypole und wollte ihn wecken. Sikes beugtesich, die Hände auf die Knie gestützt, vor und stierte verständnislos vor sich hin.
»Der arme Bolter«, sagte Fagin und verbarg mühsam sein teuflisches Grinsen. »Er ist noch ganz müd vom langen Aufpassen auf – auf sie, vom Aufpassen auf sie, Bill.«
»Was soll das heißen?« fuhr Sikes auf.
Fagin gab keine Antwort und bückte sich abermals über den Schläfer. Nach und nach kam Noah zu sich. Er gähnte und sah sich verschlafen um.
»Erzählen Sie mir doch emol die Geschichte«, forderte ihn der Jude auf, auf Sikes deutend.
»Erzählen? Was soll ich erzählen?« fragte Noah verdrießlich.
»Die Geschichte von der – Nancy«, sagte Fagin und packte Sikes am Handgelenk, um ihn zurückzuhalten, falls er vorzeitig aus dem Zimmer stürzen wollte. »Sie sind ihr doch nachgegangen?«
»Ja.«
»Auf die Londonbrücke?«
»Ja.«
»Dort hat sie zwei Leinte getroffen?«
»Ja, die hat sie getroffen.«
»Einen Herrn und eine Dame, bei denen sie schon frieher war?«
»Ja.«
»Und sie hat ihnen sollen in die Hände liefern alle ihre Kollegen und zuverderscht den Monks?«
»Ja.«
»Und hat ihnen ä genaue Beschreibung gegeben von ihm?«
»Ja.«
»Und hat gesagt, wo wir zu Hause sind?«
»Ja.«
»Und hat alles erzählt Wort für Wort, ohne daß man sie dabei bedroht hätt’ oder sie gezwungen hätt’?«
»Ja, ja.«
»Ja, ja, ja, ja«, wiederholte Fagin halb wahnsinnig vor Wut.
»Ja, es ist alles so, wie Sie sagen«, antwortete Noah und kratzte sich hinter den Ohren. »Genau so ist es zugegangen.«
»Was haben se zusammen geredet am vorigen Sonntag?«
»Am vorigen Sonntag?« wiederholte Noah sich besinnend. »Aber das hab’ ich Ihnen doch schon einmal gesagt.«
»Sagen Sie’s noch emol, sagen Sie’s noch emol«, schrie Fagin und krallte seine Finger um Sikes’ Handgelenk, mit der andern in der Luft herumfuchtelnd, während ihm der Schaum vor den Mund trat.
»Die Leute haben gefragt«, berichtete Noah, munterer werdend und allmählich begreifend, wer Sikes wohl sein möchte, »die beiden haben sie gefragt, warum sie letzten Sonntag nicht gekommen ist, wie sie versprochen hatte. Darauf hat sie gesagt, sie hätte nicht können.«
»Worum, worum hat sie nicht können?«
»Weil sie von Bill, von dem sie ihnen schon früher erzählt hatte, gewaltsam zurückgehalten worden sei –«
»Und weiter«, schrie Fagin, »was hat sie noch weiter vom Bill gesagt?«
»Nun, daß sie nicht so leicht von Haus weg kann, ohne daß er’s weiß, darum habe sie ihm – hahaha –« Noah konnte das Lachen kaum mehr zurückhalten. »Ich hab’ damals schon so lachen müssen«, entschuldigte er sich. »Erst als sie ihm Laudanum eingegeben hatte, konnte sie das erste Mal aus dem Haus.«
»Der Teufel soll sie zerreißen«, schrie Sikes und wand sich von dem Juden los. »Losgelassen.«
Und er schleuderte den Alten weit von sich und stürzte wie ein Rasender die Treppe hinab.
»Bill, Bill«, rief ihm der Jude, der ihm hastig folgte, nach, »ein Wort nur noch.«
Er hätte das Wort nie sagen können, wäre es dem Einbrecher möglich gewesen, die Türe zu öffnen. Fagin holte ihn ein.
»Laß mich«, keuchte Sikes, »kein Wort jetzt, laß mich, sag’ ich.«
»Nur noch e Wort«, flüsterte Fagin und legte die Hand auf die Klinke, »Sie werden doch nicht –«
»Was?«
»Sie werden doch nicht zu weit gehen, Bill?«
Es war bereits hell genug geworden, daß die beiden einander in die Augen sehen konnten. Sie tauschten einen kurzen Blick. Es blitzte darin ein stummes Wort, das nicht mißverstanden werden konnte.
»Ich will sagen«,
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