Oliver Twist
fuhr Fagin heimlich fort, die Maske abwerfend, »ich will nur sagen: tun Sie nix, was sich nicht verträgt mit der Sicherheit. Seien Sie schlau, Bill, und nix riskieren.«
Sikes antwortete nicht. Er stieß die Türe auf, deren Schloß Fagin geöffnet hatte, und stürzte hinaus auf die Straße.
Ohne nur eine Sekunde innezuhalten, starr und unverrückt vor sich hinstarrend, die Zähne zusammengebissen, daß die Kiefermuskeln hervortraten, lief der Einbrecher immer geradeaus und zuckte mit keiner Wimper, bis er seine eigene Haustüre erreicht hatte. Er öffnete sie leise mit einem Schlüssel und schlich sich die Treppe empor, trat in sein Zimmer, verschloß es und schob einen schweren Tisch gegen die Türe. Dann zog er den Bettvorhang zurück.
Nancy lag halbangekleidet da. Er hatte sie im Schlaf gestört, und sie blickte hastig auf.
»Aufgestanden«, keuchte er.
»Du bist’s Bill«, sagte das Mädchen, sichtlich entzückt über seine Heimkehr.
»Ja, ich bin’s«, war die Antwort, »aufgestanden.«
Es brannte eine Kerze, aber der Verbrecher riß sie aus dem Leuchter und schleuderte sie in die Asche. Von draußen schien mattes Tageslicht herein, und das Mädchen stand auf, um die Gardine zusammenzurollen.
»Laß das«, knurrte Sikes und stieß sie zurück. »Es ist genug Licht für das, was ich vorhab’.«
»Bill«, flüsterte das Mädchen, sprachlos vor Entsetzen. »Was stierst du mich so an!«
Ein paar Sekunden blieb der Verbrecher regungslos stehen und betrachtete sie mit den geblähten Nüstern und wogender Brust. Dann packte er sie am Kopf und an der Kehle und schleppte sie in die Mitte des Zimmers. Mit einem Blick auf die Türe legte er seine schwere Hand an ihre Gurgel.
»Bill, Bill«, röchelte das Mädchen und kämpfte mit Todesangst gegen seinen Griff. »Ich – ich – ich will ja nicht schreien – nicht ein einziges Mal – so sprich doch – sag doch, was hab’ ich getan.«
»Du weißt es selbst, du Aas«, knirschte der Einbrecher zwischen den Zähnen durch. »Man hat dich in der Nacht beobachtet. Jedes Wort weiß ich, das du gesagt hast.«
»Dann schone mein Leben um des Allbarmherzigen willen, wie ich deines geschont habe«, jammerte Nancy und klammerte sich an ihn. »Bill, lieber Bill, du kannst mich doch nicht ermorden wollen. Bedenke, was ich gestern deinetwegen aufgegeben habe, laß dir Zeit und denke nach und du wirst nicht ein neues Verbrechen begehen. Ich will dich festhalten – du kannst mich nicht abschütteln. Bill, Bill, um Himmels willen, um deinetwillen, um meinetwillendenk nach, bevor du mich umbringst. Ich bin dir treu geblieben, so wahr mir Gott helfe.«
Mit aller Kraft kämpfte Sikes, um seine Arme frei zu kriegen, aber die des Mädchens schlangen sich so fest um ihn, daß es ihm nicht gelang.
»Bill«, schrie Nancy und versuchte, ihren Kopf an seine Brust zu legen, »der alte Herr und das liebe Fräulein haben mir heute nacht erzählt von einer Heimat, die wir in einem fremden Lande haben können. Laß mich wieder zu ihnen, und ich werde sie auf den Knien bitten, daß sie dir dieselbe Barmherzigkeit erweisen, wie sie mir sie angeboten haben. Wir wollen dann beide fort von hier und ein andres Leben anfangen. Zur Reue ist es nie zu spät, das haben sie mir gesagt, – und ich fühle, sie haben recht. Aber wir müssen Zeit haben, – nur ein wenig Zeit noch.«
Da bekam der Verbrecher einen Arm frei und faßte nach seiner Pistole. Eine Sekunde lang überlegte er, ob er losdrücken sollte, dann sagte er sich, das würde ihn verraten. Mit aller Kraft, die er aufwenden konnte, schlug er in das nach aufwärts gekehrte Gesicht des Mädchens, das fast das seinige berührte.
Sie taumelte und fiel, blind von dem Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde von der Stirn in die Augen lief. Mühsam erhob sie sich noch einmal auf die Knie und zog aus ihrem Brustlatz ein weißes Tuch – das Tuch Rose Maylies –, sie hielt es mit gefalteten Händen in die Höhe und murmelte ein Gebet um Erbarmen zum Himmel empor.
Es war ein grausiges Bild.
Der Mörder taumelte zurück, bedeckte die Augen mit der Hand, um Nancy nicht mehr zu sehen, dann packte er einen Knüttel und schlug sie zu Boden.
ACHTUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Sikes’ Flucht
Von allen bösen Taten, die Sikes jemals begangen, war diese wohl die schlimmste.
Die Sonne, die dem Menschen neues Leben und Hoffnung bringt, warf ihre ersten Strahlen über die belebte Stadt in klarer leuchtender Glorie. Durch farbiges Glas in den Dom
Weitere Kostenlose Bücher