Oliver Twist
Erwachsenen. Ziemlich klein für sein Alter, hatte er höchst kuriose Beine und kleine scharfblickende Rattenaugen. Der Hut saß ihm so lose auf dem Kopf, daß er jede Minute herunterzufallen drohte, wohl auch schon des öfteren heruntergefallen wäre, wenn sein Herr es nicht vortrefflich verstanden hätte, ihn, wenn er rutschte, mit einem geschickten Ruck mit dem Kopf wieder in die richtige Lage zu bringen. Der Bursche trug einen Rock, der für einen Erwachsenen groß genug gewesen wäre und ihm fast bis an die Knöchel reichte. Die Ärmel trug er bis zur Hälfte aufgekrempelt, um die Hände frei zu haben. Kurz und gut, der Junge sah so seltsam und windig aus, wie wohl je nur ein Bürschchen von vier Fuß, sechs Zoll oder noch weniger in Stulpenstiefeln aussehen konnte.
»Hallo, Spatz, auf der Walze?« fragte der seltsame junge Gentleman Oliver abermals.
»Ich bin furchtbar hungrig und müde«, antwortete Oliver,während ihm die Tränen in die Augen traten. »Ich habe einen langen Marsch hinter mir, einen Marsch von sieben Tagen.«
»Was? Sieben Tag auf der Walze?« rief der junge Gentleman. »Aha, weiß schon. Wir haben was gerochen auf der Polizei, was? Der Balhochem hat was gerochen. Du weißt wohl nich, was ’n Balhochem is, was, du Greenhorn?« setzte er hinzu, als er Olivers verwunderten Blick bemerkte. Oliver verneinte.
»Na ja, du Greenhorn«, rief der junge Gentleman, »’n Balhochem ist doch ’n Poliziste. Mir scheint, du bist noch nie in der Mühle gewesen.«
»In was für einer Mühle?« fragte Oliver.
»In was für ’ner Mühle? Na, die Mühle, in der die Leute umsonst arbeiten – na, das Gefängnis mein’ ich.« Als er bemerkte, daß Oliver nicht verstand, fuhr er fort: »Aber mir scheint, du hast Hunger, Mesinung hab’ ich zwar selber keins, aber wir werd’ns schon machen. Steh auf und komm.« Hierauf brachte der wackre junge Herr Oliver, nachdem er ihm hatte aufstehen helfen, vor einen Krämerladen, in dem er Brot und Schinken kaufte und Oliver davon essen ließ.
»Nach London?« fragte er, nachdem Oliver sich ein wenig gesättigt.
»Ja.«
»Hast du eine Stranzen?«
»Was ist das?«
»Na, ’ne Wohnung.«
»Nein.«
»Mesummes?«
Oliver machte ein fragendes Gesicht.
»Geld mein’ ich.«
»Nein.«
Der junge Gentleman versenkte seine Hände in seine Taschen und pfiff durch die Zähne.
»Wohnen Sie in London«, fragte Oliver.
»Ja, wenn ich daheim bin. Aber mir scheint, du weißt gar nicht, wo du heut nacht schlafen willst.«
»Nein«, gab Oliver zu. »Ich hab’ schon seit sieben Nächten kein Dach über dem Kopf gehabt.«
»Mach dir keine Sorgen deshalb«, tröstete ihn der junge Herr. »Ich geh’ heut abend auch nach London. Ich kenn’ da einen ehrbaren alten Herrn, der wird dir bald ’ne gute Stelle verschaffen, – das heißt natürlich, wenn dich ’n Schentlman, wo ihn kennt, einführt bei ihm. Auf mir hält er große Stücke«, setzte der junge Gentleman lächelnd hinzu.
Das Anerbieten war so verlockend, daß Oliver keinen Augenblick zögerte, einzuschlagen. Er wurde zutraulicher und erfuhr, daß sein neuer Freund Jack Dawkins heiße und der ausgesprochene Liebling des erwähnten alten Gentlemans sei. Jacks Äußeres freilich sprach nicht zugunsten der Lieblinge des erwähnten Ehrenmannes, aber da er sehr großmäulig tat und selbst von sich behauptete, man kenne ihn weit und breit als einen »verdammt gerissenen Baldowerer«, schloß Oliver, der alte Herr spräche in diesem Falle wohl gute Ratschläge in den Wind. Unter diesem Eindruck faßte er heimlich den Entschluß, sich bei dem Philanthropen so bald wie möglich in ein besseres Licht zu setzen und, falls Jack Dawkins, wie er befürchtete, einer Besserung nicht zugänglich sein sollte, auf die Ehre weiterer Bekanntschaft mit ihm zu verzichten.
Da Jack sich unbedingt weigerte, London vor Einbruch der Nacht zu betreten, schlug es elf Uhr, als sie den Schlagbaum von Islington erreichten. Vom »Engel« aus gingen sie nach St. Jones Road, die kleine Gasse, die bei Sadlers Walls Theater endigt, hinab und gelangten durch Exmouth Streetund Coppile Row in den kleinen Hof neben dem Arbeitshaus. Dann schritten sie über den klassischen Grund und Boden, der einstmals den Namen Hockley-in-the-Hole führte, und gelangten nach Little und Great Saffron Hill, von wo aus der kuriose junge Gentleman sich in einen Galopp versetzte, wobei Oliver ihm auf den Fersen folgen mußte.
Von dem ungewohnten Anblick einer großen Stadt
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