Oliver Twist
ganz und gar in Anspruch genommen, mußte Oliver sein möglichstes tun, um seinen Führer nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Einen schmutzigeren und verkommeneren Platz hatte Oliver noch nie gesehen. Die Straße war eng und voll Schmutz und die Luft gesättigt von den widerlichsten Gerüchen. Kleine Läden gab es hier in Menge, aber ganze Haufen von Kindern, die jetzt selbst zur Nachtzeit noch bei den Türen aus und ein krochen oder drinnen in den Häusern quiekten und schrien, schienen der einzige Inhalt der Geschäfte zu sein. Die einzigen Unternehmungen, die wirklich zu gedeihen schienen, waren die Schenken, denn dort prügelte sich irischer Pöbel, was das Zeug halten wollte. Gedeckte Torwege und Höfe, die da und dort von den Hauptstraßen abzweigten, ließen Knäuel von Häusern sehen, wo sich betrunkene Männer und Frauen nur so wälzten. Aus den Torwegen kamen scheublickende Individuen herausgeschlichen und verloren sich gleich darauf wieder im Dunkel. Eben überlegte Oliver noch, ob es nicht am besten sei, wegzulaufen, da gelangte er mit seinem Begleiter vor einer Anhöhe an und wurde von ihm am Ärmel gefaßt. Dann stieß Jack eine Haustüre auf, nicht weit von Field Lane, zog Oliver in einen Korridor und schloß gleich darauf das Tor wieder hinter sich zu.
»Wer da?« rief eine Stimme von unten als Antwort auf einen Pfiff, den der junge Herr hatte ertönen lassen.
»Reiner Wind«, war die Antwort. Es schien das eine ArtLosungswort zu sein, daß die Luft rein sei. Gleich darauf warf das Licht einer kleinen Kerze seinen Schein auf die Mauer vom rückwärtigen Ende des Ganges aus, und das Gesicht eines Mannes lugte durch eine Spalte einer alten Türe hervor, aus der ein Teil der Füllung herausgebrochen war.
»Da sind ja zwei«, sagte der Mann und beschattete das Licht mit der Hand, um besser sehen zu können. »Wer ist der andere?«
»Ein junges Beindl«, antwortete Jack Dawkins und zeigte auf Oliver.
»Woher?«
»’n Greenhorn. Ist Fagin oben?«
»Sortiert die Riegenlappen. Marsch rauf mit euch.«
Die Kerze erlosch, und das Gesicht verschwand.
Oliver tastete, sich mit einer Hand am Ärmel seines Gefährten haltend, die Wand entlang. Sie stiegen eine dunkle morsche Stiege hinauf, die Jack offenbar genau kannte. Dann öffnete sich eine Tür, und Oliver trat ein.
Wände und Decke der kleinen Stube waren von Alter und Schmutz fast schwarz. Ein Tisch aus Fichtenholz stand vor dem Ofen und darauf eine Kerze, die im Hals einer Bierflasche stak, und daneben ein paar Zinnkrüge, Brot, Butter und ein Teller. In einer Bratpfanne, die mit einem Strick an den Sims des Kamins gebunden über dem Feuer hing, lagen ein paar Würste, und darüber gelehnt, eine große Gabel in der Hand, stand ein uralter, vertrockneter Jude, sein schurkisches Gesicht mit den abstoßendsten Zügen von der Welt von rotem Kraushaar beschattet. Der Mann war in einen schmutzigen Flanellkittel gehüllt, der nur seinen Hals freiließ. Seine Aufmerksamkeit schien zwischen der Bratpfanne und einem Kleidergestell zu schwanken, an dem eine große Anzahl von seidenen Taschentüchern hing. Auf dem Bodenlagen nebeneinander ein paar grobe Betten aus alter Sackleinwand, und um den Tisch herum saßen vier bis fünf Jungen, keiner älter als Mr. Dawkins, rauchten aus langen Tonpfeifen oder tranken Schnaps wie Erwachsene. Sie scharten sich sogleich um Jack, der dem alten Juden ein paar Worte ins Ohr flüsterte, sich dann umdrehte und Oliver angrinste.
Auch der Jude warf Oliver einen lauernden Blick zu, ohne dabei die Gabel aus der Hand zu legen.
»Hier, Fagin«, sagte Jack Dawkins, »ist mein Freund Oliver Twist.«
Der Jude grinste, machte Oliver eine tiefe Verbeugung, nahm ihn bei der Hand und gab der Hoffnung Ausdruck, der Ehre seiner näheren Bekanntschaft teilhaftig werden zu dürfen. Darauf stellten sich die Jungen mit ihren Tonpfeifen um Oliver und schüttelten ihm sämtlich die Hände, und zwar besonders eifrig die, in der er sein Bündel trug. Einer der jungen Gentlemen war bestrebt, ihm die Mütze vom Kopf zu ziehen, und ein anderer geruhte, ihm die Finger in die Taschen zu stecken, offenbar um ihn der Mühe zu entheben, sie vor dem Schlafengehen selbst auszuleeren. Die Jungen hätten ihre Höflichkeiten wahrscheinlich noch weiter ausgedehnt, würde der Jude nicht seine Gabel des öfteren auf die jungen Herren haben herabsausen lassen.
»Mir freien sich außerordentlich, Ihnen zu sehen, Oliver, ganz außerordentlich«, versicherte der
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