Oliver Twist
das Glas auf einen Zug, »aber verdammt müde bin ich. Der Lausebengel is krank jewesen und se haben ihn an die Strippe jebunden und –«
»Nancyleben, Kind!« jubelte Fagin und blickte auf.
Ob nun der Jude dadurch, daß er seine roten buschigen Augenbrauen zusammenzog und Miß Nancy einen raschenBlick zuwarf, sie warnen wollte oder nicht, jedenfalls unterbrach sie plötzlich ihren Bericht, sah Mr. Sikes lächelnd an und brachte das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Nach ungefähr zehn Minuten wurde Mr. Fagin von einem Husten befallen, und Nancy warf sich sofort, als ob das ein Zeichen wäre, ihr Tuch über die Schultern und sagte, sie müsse jetzt gehen. Aber auch Mr. Sikes schien den Gedanken zu haben, sie ein kurzes Stück begleiten zu wollen, denn er sprach seine Absicht dahin aus, und gleich darauf gingen sie zusammen fort, von dem Köter gefolgt, der, kaum daß er seinen Herrn erblickte, auf dem Hof herangeschlichen kam. Der Jude stand, als Sikes draußen war, auf, spähte ihm durch die Stubentür nach, ballte die Faust, murmelte einen dumpfen Fluch und setzte sich dann fürchterlich trinkend wieder an den Tisch und studierte eifrig die Rubrik für Steckbriefe in der Zeitung.
Inzwischen befand sich Oliver, nicht ahnend, in welcher Nähe sich der lustige alte Herr befand, auf dem Weg nach dem Bücherladen. In Clerkenwell angelangt, bog er in eine Nebengasse, die eigentlich nicht direkt hinführte; und als er seinen Irrtum gewahr wurde, hielt er es nicht mehr für der Mühe wert, umzukehren, sondern eilte vorläufig geradeaus, um dann wieder die Hauptrichtung einzuschlagen. Ganz vertieft in Gedanken, wie glücklich er sich jetzt fühlen müsse und wie schlecht es wohl dem armen kleinen Dick, seinem Freund, im Arbeitshaus gehen möge, schreckte er plötzlich durch einen gellenden Ruf auf, den ein Frauenzimmer in seiner Nähe ausstieß.
»O da is er ja, mein lieber kleener Bruder!«
Bis ins Innerste erschreckt, fuhr Oliver zusammen, und kaum blickte er auf, da schlangen sich auch schon ein paar Arme um seinen Hals und hemmten ihn in seinem Lauf.
»Lassen Sie mich los!« schrie Oliver, bemüht, sich loszureißen.»Lassen Sie mich los! Wer ist denn das? Weshalb halten Sie mich auf?«
Die einzige Antwort, die die junge Dame, die ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte, gab, bestand in einem zornigen Gezeter von Jammer- und Weherufen.
»Jott im Himmel, hab’ ich dich endlich!« rief sie beständig, ihr Körbchen und den Hausschlüssel in der Hand. »Oliver, unjeratner Lausebengel; mir den Jram anzutun! Nu kommst de aber schleunigst mit. Hab’ ich dich endlich jefunden! Gott sei Dank, daß ik ihn jefunden habe!« Abermals brach die junge Dame in ein wildes Kreischen aus, so daß ein paar Weiber, die gerade vorübergingen, einem Schlächterjungen mit gefettetem Haar zuriefen, er möge schleunigst einen Arzt holen.
»Ach nö, lassen Se doch«, wehrte die junge Dame ab und packte Oliver am Arm, »es is mir schon viel besser. Gleich kommst de mit heim, du Lausejunge.«
»Was ist denn los, Freileinchen?« fragte eine.
»Ach, Madame, vor vier Wochen is er seinen Eltern wegjelofen, fleißigen und betriebsamen Leiten, und hat sich mit Diebsjesindel und schlechter Jesellschaft einjelassen, und darüber is seiner Mutter beinah das Herz jebrochen.«
»Elender Lausbub«, schimpfte eine Frau.
»Marsch, nach Haus mit dir, ungeratner Bengel«, schalt die andre.
»Das ist doch alles nicht wahr«, rief Oliver in großer Angst, »ich kenne das Mädchen gar nicht. Ich habe gar keine Schwester und weder Vater noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne in Pentonville.«
»Hör mal einer so ’ne Frechheit!« rief die junge Dame.
»Aber Sie sind ja Nancy!« rief jetzt Oliver, der ihr zum erstenmal ins Gesicht sah und erstaunt zurückfuhr.
»Na, da sehen Se, daß er mir kennt«, rief Nancy, sichan die Umstehenden um Hilfe wendend. »Nu kann er sich nicht mehr ausreden. Ach, zwingt ihn doch mit mir zu gehen, zu seiner Mutter und seinem wackern Vater, sonst bringt er ihn noch unter die Erde, und mir bricht das Herz!«
»Was zum Teufel soll denn das heißen?« rief plötzlich ein Mann und kam aus einer Schenke heraus, von einem weißen Hund gefolgt. »Das ist doch der saubere Mosjö Oliver! Gleich kommst du mit heim zu deiner armen Mutter, du junger Schuft. Marsch heim!«
»Hilfe, Hilfe, ich kenne die beiden doch gar nicht«, rief Oliver, sich aus Leibeskräften unter dem Griff sträubend und windend.
»Hilfe«,
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