Oliver Twist
raus müßtest zum Galgen, ich ging da nicht vorbei, und wenn ich rumlofen müßte, bis ich glatt im Schnee liegen bliebe und keen Tuch hätte, mir drin zu wickeln.«
»Ach was, Quatsch«, murrte Mr. Sikes, der keinen Sinn für Sentimentalität hatte. »Wenn du mir nich ’ne Feile und ’n paar Ellen festen Strick rüberwerfen könntest, dann wär’s mir gleich, was du sonst tätest. Marsch, vorwärts, halts Maul jetzt.«
Das Mädchen brach in ein krampfhaftes Lachen aus und zog sich ihr Umschlagtuch fester um die Brust. Dann schritten sie weiter. Oliver fühlte deutlich, wie ihre Hand zitterte, und sah, als sie an einer Laterne vorüberkamen, daß ihr Gesicht leichenblaß geworden war. So ging es wohl eine halbe Stunde vorwärts. Dann bogen sie in eine schmutzige enge Gasse ein, in der sich ein Trödlerladen neben den anderen drückte. Der Hund lief voraus, als wisse er, daß jetzt die Gelegenheit vorüber sei, seinem Opfer an die Gurgel zu fahren, und blieb vor der Türe eines solchen Ladens stehen. Das Haus war fast gänzlich verfallen; auf einem Brette stand mit kaum mehr leserlicher Schrift, daß die Lokalität zu vermieten sei.
Nancy bückte sich und schien hinter die Fensterläden zu greifen. Gleich darauf vernahm man den Klang einer Glocke. Dann gingen sie auf die andere Seite der Straße hinüber und blieben dort unter einer Laterne stehen. Dem Geräusch nach zu schließen, wurde ein Schiebefenster langsamin die Höhe geschoben, und gleich darauf packte Sikes den erschreckten Oliver beim Kragen, und eine Sekunde später standen sie alle drei im Innern des Hauses. Es war stockfinster.
»Ist jemand hier?« fragte Sikes.
»Nein«, antwortete eine Stimme, die Oliver merkwürdig bekannt vorkam.
»Der Alte drin?«
»Ja«, antwortete die Stimme. »Wird sich höllisch freuen, daß ihr kommt.«
»Zündet doch ein Licht an, oder wir brechen uns die Hälse«, grollte Sikes.
»Gleich, im Augenblick«, war die Antwort.
Dann hörte man, wie sich Schritte entfernten, und eine Minute später erschien Mr. John Dawkins, der »Baldowerer« genannt, mit einem Talglicht, das er an einem zersplitterten Stock festgebunden hatte. Der junge Herr nahm sich kaum Zeit, Oliver vergnügt anzugrinsen, drehte sich schnell um und winkte den dreien, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Sie schritten durch eine leere Küche, es öffnete sich die Tür einer niedrigen dumpfigen Stube, die in einen kleinen Hof nach rückwärts hinauszugehen schien, und ein schallendes Gelächter begrüßte sie.
»Juchu«, jubelte Master Bates, »da ist er! Ich sag’ Ihnen, schauen Sie nur, ist das ein Jux! Haltet mich, ich zerspringe vor Lachen.«
Und mit nicht zu bändigender guter Laune warf sich Master Bates auf den Boden und strampelte wohl fünf Minuten lang mit Händen und Beinen, dann sprang er auf, riß dem Baldowerer den Stock aus der Hand, ging auf Oliver zu und rings um ihn herum und unterwarf ihn einer sorgfältigen Musterung, während der Jude seine Zipfelmütze vom Kopf nahm und vor dem verdutzten Oliver einen tiefenBückling machte. Der Baldowerer, der bisher ernst geblieben, räumte unterdessen sorgfältig Olivers Taschen aus.
»Was der jetzt für Lappen an hat, Fagin«, sagte Master Bates und hielt die Kerze so dicht an Olivers neuen Anzug, daß dieser fast anbrannte. »Allerfeinstes Tuch und hochmodern. Gott, ist das ein Jux! Und Bücher hat er auch mit; der reinste Gentleman, Fagin, der reinste Gentleman.«
»Ja, ich bin entzückt, Ihnen so wohl zu sehen, wertgeschätzter Herr«, höhnte der Jude und machte grinsend einen Bückling nach dem andern, »der Baldowerer wird Ihnen einen anderen Anzug geben, daß Sie sich die werten Sonntagskleider nicht schmutzig machen. Gott, warum haben Sie uns nicht von Ihrer erfreulichen Ankunft schriftlich benachrichtigt? Wir hätten Ihnen ä warmes Suppeh vorbereitet.«
Über diesen Witz mußte Master Bates so fürchterlich lachen, daß er fast selbst aus der Rolle fiel. Auch der Baldowerer lächelte. Ob seine Heiterkeit dem Scherze galt, oder dem Umstand, daß er in diesem Augenblick Oliver eine Fünfpfundnote aus der Tasche zog, muß dahingestellt bleiben.
»Hallo, was ist das?« rief Sikes und trat vor, während der Jude nach der Banknote griff.
»Das ist mein Geld, Fagin.«
»Aber was glauben Sie denn? Mein ist das Geld. Mir gehört es, Bill. Sie können sich die Bücher nehmen.«
»Mein ist’s«, fuhr Bill Sikes auf und stülpte sich entschlossen den Hut auf den Kopf. »Mir und Nancy
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