Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition)

Titel: Olivia: Manchmal kommt das Glück von ganz allein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jowi Schmitz
Vom Netzwerk:
gefallen war, also stand ich in einem kurzen Gang zwischen zwei geschlossenen Türen. Die Tür hinter mir hatte keine Klinke. Die Außentür vor mir hatte eine breite Stange mit der Aufschrift: NOTAUSGANG. Natürlich wusste ich, was das bedeutete. Wenn ich die Stange hinunterdrückte und durch diese Tür nach draußen ging, würde ich in der ganzen Schule Alarm auslösen. Ich sah die Schlagzeile schon vor mir: Mädchen mit toter Mutter löst Alarm aus. Dreißig Polizeiautos rücken umsonst an!
    Mir wurde heiß. Bald würden alle übers Wochenende zu Hause sein. Nur ich befand mich in einer Ecke der Schule, in die sich nie jemand verirrte. Und dann würde ich vor Hunger sterben.
    Auch hier waren an der Wand lauter Haken. Überall gab es welche. Die Schule war voller Räume mit hohen Fenstern, durch die man von den Gängen in die Klassenzimmer schauen konnte. Unter den Glasscheiben waren Holzwände vom Boden bis auf Hüfthöhe und am Übergang von Holz und Glas hatte ein aufräumwütiger Hausmeister die vielen Haken befestigt. Für Jacken, Taschen, Zettel. Alles Mögliche hatte ich da schon hängen sehen.
    Ein aufräumwütiger Hausmeister – der mich gleich aufspüren würde. Der Jagd auf Schüler machte. Auf neue Schüler. Noch zu neu, als dass irgendjemand sie vermissen würde. Er würde mich in Stücke hacken und mir die Haut abziehen. Aus meinen Knochen würde er Haken schnitzen, an die andere Kinder ihre Jacke hängen konnten.
    Ich schloss die Augen, und in dem Moment sah ich das Gesicht meiner Mutter, das die ganze Zeit unter der Oberfläche geschlummert hatte.
    »Das wird schon, Krump«, sagte sie mit ihrem ewigen Lächeln. Sie lächelte wie eine Irre, die den Glauben nicht verliert, obwohl die Welt gerade untergeht.
    Ich drückte die Hände auf die Augen, doch ich sah meine Mutter immer noch lächeln. Am liebsten hätte ich laut gerufen: »Lass das Lächeln. Hör auf damit!«
    Meine Augäpfel pochten. Ich ließ mich zu Boden sinken. Ob ich wohl vom vielen Drücken erblinden konnte? Vielleicht sollte ich es einfach versuchen. Zuerst erblinden und dann ganz fest weiterdrücken.
    Mädchen mit toter Mutter drückt sich zu Tode.
    »Alles in Ordnung?«
    Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Knallte mit dem Kopf an einen Garderobenhaken.
    Milena.
    Sie stand in der Tür.
    »Ich habe die Tür nicht aufbekommen.« Ich klang wie ein kleines Mädchen.
    Zusammen gingen wir ins Schulgebäude zurück. Wie sich herausstellte, hatte ich mich ganz in der Nähe unseres Klassenzimmers befunden. Anscheinend war ich im Kreis gerannt.
    »Wieso bist du eigentlich noch in der Schule?« Ich musste mich umdrehen, um ihr die Frage zu stellen, denn sie machte so kleine Trippelschritte, dass ich viel schneller war als sie. Neben Milena kam ich mir so schwerfällig vor wie ein Riese. Hätte jemand uns gezeichnet, dann hätte er für sie viel mehr Striche gebraucht als für mich.
    Milena zuckte die Schultern, und ihr schönes blondes Haar wippte auf und ab.
    »Ich musste zu Olga. Irgendetwas mit meiner Mutter. Ganz toll.«
    Ich nickte. »Und jetzt?«
    »Jetzt?« Milena starrte an mir vorbei. »Geht dich gar nichts an.«
    Erneut nickte ich, als wäre das eine sehr vernünftige Antwort.
    Milenas Freundinnen warteten beim Ausgang.
    Ein Mädchen lachte. »Hast du dich im Abwasserkanal rumgetrieben, oder was?«
    Milena lachte auch. Mit einem Mal tat sie ganz fröhlich.
    »Wo hättest du sie auch sonst auffischen sollen?«, fügte das andere Mädchen hinzu, als hätte ich ihre Bemerkung nicht verstanden.
    Milena sah mich an. »Sie stinkt auch ziemlich. Die Ratte.«
    Im Lauf der letzten Woche hatte ich Milena und ihre Freundinnen jeden Tag an derselben Stelle auf dem Schulhof stehen sehen. Sie waren immer affig gekleidet. Mit Glitzer und Firlefanz und lächerlichen Handtäschchen, die sie in ihre Ranzen steckten und sich in der Pause über den Arm hängten. Die beiden Freundinnen hatten außerdem künstliche Locken, um wie Milena mit ihrem Engelshaar auszusehen. Mich erinnerten sie an Weihnachtsbäume.
    Milena und ihre Freundinnen spielten in der Pause ein Spiel. Das ging so: Wenn jemand aus einer niedrigeren Klasse vorbeikam, steckten sie die Köpfe zusammen. Sie beratschlagten sich so lange, bis sie wussten, wen sie sich vorknöpfen wollten. Dann rief eine von ihnen: »Hey, du da!« Und wenn das Opfer erstarrte – und das taten sie alle –, sagte Milena irgendetwas, zum Beispiel: »Tolle rosa Hose! Ist die neu?« Sie schüttelten sich vor

Weitere Kostenlose Bücher